Ein Tag, zwei Leben
» Ich habe gemeint, was ich gesagt habe, Sabine. Du musst das Leben wählen, nicht den Tod. Du kannst nicht die Hälfte, von dem, was du bist, ablegen und erwarten, dass es dir damit gut geht.«
Ich seufzte, noch nicht bereit für dieses Gespräch. » Es ist nur so schwierig. Ich bin zwei vollkommen unterschiedliche Menschen. Ich hasse das.«
» Ich verstehe, dass das früher so war, aber jetzt bist du achtzehn. Du bist fertig mit der Schule …«
» Zweimal«, unterbrach ich ihn.
Er grinste. » Zweimal. Ich weiß, dass du einen Weg finden wirst, du selbst zu sein, wenn du dir Mühe gibst. Und zwar dasselbe Du, in beiden Welten. Du wirst anders sein als alle andern, aber wer hat schon das gleiche Leben wie jemand anderes?« Wieder strich er mir über die Haare und ich genoss jede einzelne Berührung. » Wenn du nicht hier wärst, hätte ich dich nie gefunden. Du weißt nie, was dich gleich um die nächste Ecke erwartet – in keinem deiner Leben.«
Leider hatte ich das schreckliche Gefühl zu wissen, was in meinem Wellesley-Leben hinter der nächsten Ecke auf mich wartete. Doch weil ich in Ethans Arme lag, schien alles in dieser anderen Welt so viel weniger wichtig zu sein. » Mir gefällt, wo ich in diesem Moment bin«, sagte ich; meine Hand strich über die Konturen seines Armes. Er blickte nach unten, und ich merkte, wie dunkel die Ringe unter seinen Augen waren. » Wann hast du zum letzten Mal geschlafen?«
Er tat die Frage mit einem Schulterzucken ab und konzentrierte sich wieder auf mich. » Bei dieser Entscheidung muss es um dich gehen, Sabine. Es ist nicht fair, mich da hineinzuziehen, ich möchte das nicht. Ich möchte, dass du die Entscheidung für dich triffst. Daran musst du denken, bevor du eine endgültige Wahl triffst. Wirst du mir das versprechen?«
Ich war mir nicht mehr sicher, ob es bei der Entscheidung nur noch um mich ging. Trotzdem nickte ich. » Versprochen.«
» Und versprich mir, dass du nichts Übereiltes tun wirst. Heute zum Beispiel.«
Ich nickte wieder, und er nahm mich fest in den Arm, wobei er vor Erleichterung seufzte. Ich war kurz davor, ihm von Dex zu erzählen, von allem, was in meiner anderen Welt passiert war, doch als ich aufsah, war er bereits eingeschlafen. Er sah so erschöpft aus. Sanft fuhr ich ihm mit den Fingern übers Gesicht. Auf seinem Hals war kalter Schweiß und sein Atem hörte sich seltsam flach an.
Ich betrachtete ihn, so lange ich konnte – seltsam entschlossen, über ihn zu wachen – bis ich schließlich die Augen nicht mehr offen halten konnte. Bevor ich einschlief, schwor ich mir bis zu meinem Wechsel heute Nacht herauszufinden, was Ethan vor mir verheimlichte.
Als ich aufwachte, war er nicht mehr da. Einerseits war ich enttäuscht, andererseits war es jedoch keine Überraschung. Immerhin waren wir in einer Klinik; es wäre wohl kaum für ihn akzeptabel gewesen, im Bett einer Patientin aufzuwachen. Beim Gedanken daran lachte ich laut auf – vielleicht waren es aber auch nur die Nachwirkungen der Nacht mit Ethan. Wie auch immer – ich schob ein Gefühl des Unbehagens beiseite und beschloss, den Tag hinter mich zu bringen, bis ich ihn am Abend sehen konnte. Dann würde ich ihm von Dex erzählen, und wir würden gemeinsam darüber nachdenken, was zu tun wäre.
Meine Eltern suchten sich diesen Tag aus, um mich zu besuchen – und es lief gar nicht so schlecht. Mom hatte offenbar eine Menge Zeit gehabt, über alles nachzudenken, und nach einer verlegenen Begrüßung und dem obligatorischen Small Talk sagte sie: » Dein Dad und ich haben uns gedacht, dass – na ja, wenn es okay für dich wäre, würden wir gern eine Familientherapie machen.«
Ich nickte, weil ich ihre Bemühungen zu schätzen wusste. Aber noch mehr Therapie war so ungefähr das Letzte, was ich wollte.
» Dr. Levi hat uns gesagt, dass du sehr vielversprechende Anzeichen an den Tag legst. Ich glaube, er ist zuversichtlich, dass bald alles wieder in Ordnung ist«, informierte mich Dad stolz. Mom und Dad hielten sich eindeutig an diesem kleinen Fetzen guter Nachrichten fest und bauten darauf. Ihrer Meinung nach stand meine Genesung kurz bevor. Ich ließ sie in dem Glauben, auch wenn ich meine eigene Meinung zu Levis Verwendung des Wortes » bald« hatte. Ich war froh, dass meine Sitzung mit ihm heute Morgen wegen eines Notfalls ausfiel.
Meine Eltern bestritten den Großteil der Unterhaltung. Offensichtlich hatte Denise sie gefragt, ob sie mich besuchen konnte. Ich weiß nicht, warum
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