Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Ein Teelöffel Land und Meer

Ein Teelöffel Land und Meer

Titel: Ein Teelöffel Land und Meer Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Dina Nayeri
Vom Netzwerk:
wie das Ding funktioniert, oder?« Tatsächlich will Saba die Kamera nicht hergeben. Was würde ihre tapfere Schwester jetzt tun? Die Mahtab, die sich ihren Weg nach Harvard erkämpft hat, die Mahtab, die Journalistin werden wollte, diejenige, die bei allem die Beste war – diese Mahtab würde Reza niemals die Führung überlassen. Sie würde diese Kamera behalten und alles, was heute hier geschieht, aufnehmen. Sie würde den Film höchstpersönlich bei der
New York Times
abgeben und zu der Reporterin Judith Miller sagen: »Sehen Sie? So einfach sind die Dinge denn doch nicht, Miss Auslandskorrespondentin, die wahrscheinlich gerade mal zwei Tage im Iran verbracht hat, noch dazu in einem schicken Hotel in Teheran.«
    Reza wischt sich die Handflächen an der Hose ab. Er ergreift Sabas Hand durch den Tschador. »Ich bleibe ein paar Schritte hinter euch. So kann ich euch die ganze Zeit beobachten.«
    Saba stößt seine Hand weg, packt Ponneh am Arm, und sie betreten den Platz.
    Sie versucht, Reza in der Menschenmenge hinter ihr nicht abzuhängen. Alle blicken auf das lang gezogene Stück Straße, wo die Gefangene ankommen soll. Von ihrer Position auf einer Seite des provisorischen Schafotts kann Saba die Gesichter der neugierigen Schaulustigen sehen. Manche von ihnen nicken und machen ihr Platz, und sie hofft, dass sie die Kameralinse nicht bemerken – so ein winziger Punkt in der schwarzen, wogenden Masse ihres Körpers, wie das glänzende Knopfauge einer Amsel irgendwo über ihren Köpfen. Ob überhaupt jemand in der Lage wäre, die winzigen Unterschiede und Farben inmitten von so viel auffälliger Gleichheit auszumachen? Dennoch, bei dem Gedanken an Entdeckung durchlaufen sie Wellen von Angst, und sie klemmt sich die Kamera noch fester unter den Arm.
    Wenige Augenblicke nachdem Saba sich für einen Platz unter den Schaulustigen entschieden hat, hält ein schmutziger weißer Lieferwagen in der Nähe des Dorfplatzes. Die Masse von Männern und Frauen erstreckt sich von dem Kran bis zu der Stelle, wo der Lieferwagen steht. Die Menschen bewegen sich, machen Platz, recken die Hälse, um die Lücke sehen zu können, durch die die Gefangene kommen soll. Saba greift unter ihre Gewänder und schaltet die Kamera ein. Das rote Aufnahmelämpchen leuchtet heiß auf ihren Unterarm, und Saba ist sicher, dass alle Welt es sehen kann, diesen fetten roten Fleck, der ihren ganzen Körper einfärbt. Dennoch, in diesen furchtbaren Minuten ist sie eine Journalistin, die die Aufgabe hat, ein letztes grausiges Memento für die Welt aufzuzeichnen. Die Türen des Lieferwagens öffnen sich, und zwei
pasdars
zerren eine schreiende junge Frau heraus. Sie ist mit Handschellen an eine Beamtin der Sittenpolizei gefesselt, und die reißt an der Kette und sagt ihr, sie soll still sein. Aufgewühlt von Neugier und Schrecken, wird die Menge lauter. Haben die Menschen Mitleid mit der Gefangenen? Vielleicht ist ihre moralische Entrüstung angesichts der angeblichen Verbrechen zu groß. Saba bemerkt, dass das Mädchen außergewöhnlich schön ist. Wie eine
pari
. Wie Ponneh. Ihr bleibt das Herz stehen, als sie die Beamtin sieht, eine schwerfällige, schwarz gekleidete Krähe von Frau, genau wie die beiden Bäuerinnen in ihrem Schlafzimmer. Immer übernehmen Frauen diese Art von Arbeit – reinigen einander von Dreck und Sünde. Auf diese Weise soll der Welt gezeigt werden, dass sie nicht nach männlichen Maßstäben beurteilt und für mangelhaft befunden werden. Sabas Blick fällt auf die Hand der Beamtin, die so tut, als wollte sie die verdammte Seele trösten. Eine Basidsch-Hand, die Hand einer ehemaligen
dalak
.
    Ponnehs Brust hebt und senkt sich in so heftigen, krampfartigen Zügen, dass ihre Aufnahmen bestimmt nutzlos sind.
    »Keine Angst, ihr Lieben«, sagt eine krächzende Stimme hinter ihnen beruhigend. »Die werden’s nicht tun.« Eine alte Frau stützt sich auf einen Metallstock. Sie klingt sehr überzeugt.
    Ponneh dreht sich um, giert nach einer anderen Geschichte. »Wie bitte?«, sagt sie.
    »Die werden sie nicht töten«, sagt die alte Frau. »Die werden ihr eine Lektion erteilen, die sie nie mehr vergisst, und dann gehen wir alle nach Hause.«
    Ponneh schluckt und wischt sich mit zwei Fingern, deren Nägel völlig abgekaut sind, über die Mundwinkel. »Glauben Sie wirklich?«, sagt sie. Sie versucht, sich bei Saba einzuhaken, gibt aber wieder auf, weil zu viele Stoffschichten zwischen ihnen sind. »Hast du das gehört?«, flüstert sie

Weitere Kostenlose Bücher