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Ein Teelöffel Land und Meer

Ein Teelöffel Land und Meer

Titel: Ein Teelöffel Land und Meer Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Dina Nayeri
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an und so …«
    Saba hockt sich mitten im Hof neben die andere Tasche. Sie sieht den Inhalt durch und sucht eine Kamera aus, die funktionsfähig aussieht. »Ich weiß nicht. Ist schwer zu sagen. Ich drück doch immer bloß eine Taste an meinem Videorekorder. Ich bin schließlich keine Fotografin. Außerdem fährst du nicht hin.«
    »Es ist zwei Autostunden entfernt, in einem
deh
Richtung Teheran. Wir müssen bald los.«
    »Ponneh, hörst du mir überhaupt zu?«
    Ponneh schnieft, schüttelt den Kopf. »Was ist mit der Videokamera? Funktioniert die?«
    »Video? Du willst eine Hinrichtung auf Video aufnehmen? Bist du lebensmüde? Da wird es von
pasdars
nur so wimmeln.«
    »Ich kann sie verstecken. Sieh mal.« Ponneh schiebt die aussortierte Videokamera unter ihren Tschador und hält sie so, dass das Objektiv durch einen Schlitz unter ihrem Arm lugt. »Dieses Lumpenzeug ist doch zu was gut.«
    Saba richtet sich auf. »Du kannst sie nicht retten«, sagt sie.
    »Es geht nicht darum, sie zu retten«, zischt Ponneh, ihre Stimme wird schrill. »Es geht darum, dass ihr Tod einen Sinn bekommt! Überhaupt, was weißt du denn schon? Selbst wenn ich es nicht aufnehmen kann, muss ich bei ihr sein. Weißt du, wie das ist, dass sie sterben soll –
sterben!
– wegen etwas, das für mich bloß eine Spielerei war? Das ist der wahre Grund, warum die sie so hassen. Ich
muss
dahin.«
    Es hat keinen Sinn, ihr zu widersprechen. Saba kennt die Haltung ihrer Freundin. Wenn Ponneh irgendeine Möglichkeit finden könnte, die Blutergüsse auf ihrem Rücken aufzuwerten, der Tatsache Sinn zu geben, dass sie wegen eines Paars roter Schuhe geschlagen wurde, dann würde sie sie frohen Herzens ergreifen. Stille tritt ein. Ponneh scheint sich in sich selbst zurückzuziehen, und Saba grübelt darüber nach, wie dieser Tag enden könnte – mit einer Auspeitschung? Eine von ihnen im Gefängnis oder, schlimmer noch, aus einem Gefängnis verschwunden? Vielleicht aus Evin mit seinen ewig stummen Steinmauern, die Briefe und Telefonanrufe derjenigen verschlucken, die zurückgelassen wurden. Wer weiß, was Ponneh gerade denkt? Ihr starrer Blick wirkt beinahe irre, und sie flüstert Farnaz’ Namen so, wie Saba sich vorgestellt hat, dass sie es tun würde, wenn ihre kranke Schwester endlich diese Welt verlassen hat.
    »Das ist alles meine Schuld«, sagt Ponneh mit glasigen Augen und kalter, prophetischer Stimme. »Sie wird meinetwegen sterben.«
    Und jetzt denkt Saba nicht mehr an Farnaz. Sie hört nur Ponnehs Worte – ihre Trauer um den Verlust einer Art Schwester. Schon drängt sich Mahtab in ihre Gedanken, und sie weiß, dass Ponneh recht hat.
Wird schon nicht so schwer sein
, sagt sie sich in dem Versuch, ihrem Körper Mut abzutrotzen. Sie hat den Tod wieder und wieder gesehen. Sie ist der böse Zwilling mit den tausend Dschinn. Sie kann mit den brutalsten Dingen fertigwerden, und sie wird Ponneh jetzt auf keinen Fall im Stich lassen.
    * * *
    Als sie das Dorf erreichen, ein staubiges Örtchen mit Polizeiwache, Rathaus und einem strohgedeckten Laden an derselben unbefestigten Straße, müssen sie nicht nach dem Weg fragen. Jede Einzelheit des heutigen Ereignisses wurde sorgsam arrangiert, der Ort danach ausgewählt, dass er genau die richtige Anzahl Schaulustiger aus Teheran, Rasht und der Heimatstadt des Mädchens anlockt, der Platz danach ausgesucht, dass er viele Zuschauer fassen kann. Selbst die Luft ist von einem atemlosen Verhängnis geschwängert, als wäre sie absichtlich damit gefüllt worden. Dutzende Männer in weiter, ländlicher Kleidung, in Jeans oder Geschäftsanzügen und Frauen in schwarzen Tschadors stehen um einen Kran, der ganz vorsichtig in der Mitte des Platzes in Stellung gebracht wird. »Großer Gott«, flüstert Saba, als sie den Kran erblickt, dessen klauenartiger Haken schwerelos hin und her schwingt, bereit, sein Opfer in die Luft zu ziehen. Saba hat noch nie eine Hinrichtung gesehen. So etwas passiert einfach nicht in idyllischen Bergstädtchen oder
shalizar
-Dörfern wie Cheshmeh. Und Saba will auch jetzt keine sehen, obwohl so viele Leute von überall her gekommen sind, um dem Ereignis beizuwohnen. Als Ponneh, die auf der Rückbank liegt, um ihre Nerven zu beruhigen, den Kran wahrnimmt, stößt sie einen kehligen, fast tierischen Laut aus. Sie bleiben zehn Minuten sitzen, bis sie die Fassung zurückgewonnen hat, dann lassen sie den Wagen etliche Meter außerhalb des Platzes stehen, dessen Boden inzwischen von dem Kran und

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