Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Ein Teelöffel Land und Meer

Ein Teelöffel Land und Meer

Titel: Ein Teelöffel Land und Meer Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Dina Nayeri
Vom Netzwerk:
und benommen allein mit sich ist, und die ihr sagen, dass sie ein Mädchen sein könnte, das voller Gier nach dem eigenen Leben die Hand der Schwester im Wasser losließ? Saba stellt sich vor, wie sie hinter einer Mauer oder in einer einsamen Gasse hockt und auf Beweise wartet, die sie ins Ausland schicken kann, wie sie geschnappt wird und für ihre Verbrechen bezahlt, Schläge erträgt, wie Ponneh das musste, und zu einem der schönen Dinge wird, die die
pasdars
verachten.
Nein
, denkt sie. Sie hat bereits bezahlt.
    Jetzt starrt Ponneh auf die Kamera in ihren Händen, und Saba kann nur den oberen Rand ihres Gesichts und den Nasenrücken sehen. Ponneh beginnt zu zittern. »Ich muss«, flüstert sie.
    Saba macht einen Schritt auf ihre Freundin zu. »Ponneh-dschan, du kannst doch so etwas nicht verhindern, indem du einfach nur Fotos machst? Siehst du denn nicht ein, dass das verrückt ist?« Sie möchte Ponneh helfen, ihr begrei f lich machen, wie wichtig es ist, vorsichtig zu sein. Jedes Jahr finden im Iran Hunderte von Hinrichtungen statt – vielleicht sogar Tausende –, entweder in Gefängnissen oder öffentlich. Obwohl es in und um Cheshmeh noch nie eine gab und obwohl Saba noch nie eine gesehen hat, weiß sie von ihrem Vater, dass Richter sich meistens dann für eine öffentliche Hinrichtung entscheiden, wenn es um ein moralisches Verbrechen geht, eine schwache Seele, die die Menge verurteilen kann, während sie zugleich sieht, was denen droht, die zu viel wollen. Niemand, der diesem Ereignis beiwohnt, wird Ponnehs Schmerz fühlen. Niemand wird ihr Freund sein. Von derartigen Szenen hält man sich lieber fern.
    »Nein«, blafft Ponneh. »Nein, ich hab nicht gesagt, ich würde die Hinrichtung verhindern, ich hab gesagt, ich würde verhindern, dass
etwas Schlimmes
geschieht. Nämlich, dass meine Freundin sinnlos sterben muss.«
    Saba versucht zu schlucken, aber etwas steckt in ihrer Kehle fest. Sie setzt zu einer Frage an, die sie gar nicht stellen will. »Welche Freundin meinst du?«, sagt sie schließlich.
    »Farnaz«, flüstert Ponneh. Sobald der Name heraus ist, beginnen ihre Schultern zu beben. Sie hantiert an der Kamera herum, hört dann auf und wischt sich die Nase am Jackenärmel ab. »Sie bringen Farnaz heute öffentlich um, wegen Sittenwidrigkeit. Wegen …« Sie stockt, flüstert jetzt nicht mehr, sondern ringt krampfhaft nach Luft. »Die sagen, sie hätte mit vielen Männern geschlafen und dass sie vier Zeugen hätten. Das kann doch gar nicht sein! Und sie behaupten, sie hätte so viel Opium und Kokain gehabt, dass sie Drogenhändlerin sein muss. Sie raucht nicht mal Zigaretten, geschweige denn … Jedenfalls, es ging alles so schnell, und Dr. Zohreh hat versucht, sie rauszuholen, aber die haben sich so viele Anklagepunkte einfallen lassen. Die wollen sie wegen ihrer Arbeit aufhängen –« Ihre Knie geben nach, und sie greift nach irgendwas. »O Gott, es ist meine Schuld … vielleicht wissen die Bescheid.«
    Saba legt Ponneh einen Arm um die Taille und führt sie zu einer Bank in der Ecke hinter den Blumenbeeten, neben einem Baum und dem Gästezimmerfenster.
    »War da noch mehr … Haben sie dich je mit ihr gesehen?« Saba versucht, einen klaren Kopf zu bewahren, aber ihre Brust krampft sich zusammen wie ein ausgewrungener Lappen. Der vertraute säuerliche Geschmack der Angst füllt ihren Mund.
    Ponneh schüttelt den Kopf. »Ich denke, sie ist ihnen erst aufgefallen, nachdem sie sich geweigert hat zu heiraten. Der Mann war ganz besessen von ihr, wie Mustafa, und hat sie überallhin verfolgt … Aber sie mag nur Frauen.« Sie kratzt sich über den Daumennagel und murmelt: »Ich dachte, du könntest die Bilder deinem Video-Mann geben … Verstehst du? Damit die Amerikaner sie sehen.«
    Saba starrt mit aufgerissenen Augen auf die beiden Taschen. Sie sucht nach tröstenden Worten, aber ihr fällt absolut nichts ein, was sie sagen könnte. Sie hat nur Fragen. Wann wurde das beschlossen? Wie lange weiß Ponneh schon, dass ihre Freundin in Gefahr ist? »Was ist denn in der anderen Tasche?«
    »Noch mehr Kameras«, sagt Ponneh, das Gesicht gerötet. »Ich bin rumgelaufen und hab sie zusammengeborgt. Die erste, die ich ausgeliehen hab, war kaputt. Die nächste war alt und machte schlechte Bilder. Ich musste nach Rasht, um sie entwickeln zu lassen, und sie waren alle bloß schwarz. Also hab ich diese da ausgeborgt, weil ich dachte, du weißt vielleicht, welche was taugt. Du siehst dir doch dauernd Filme

Weitere Kostenlose Bücher