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Ein Teelöffel Land und Meer

Ein Teelöffel Land und Meer

Titel: Ein Teelöffel Land und Meer Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Dina Nayeri
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würde er einen Ball aufheben, nimmt die Kamera und schiebt sich zwischen Saba und Ponneh.
    »Bist du okay?«, flüstert er Ponneh zu. »Gehen wir. Das hier wird grauenhaft.«
    Ponneh scheint unfähig, ihren Blick von dem Kran abzuwenden. Wie könnte man in einem solchen Moment nicht hinsehen? Wie kann sie nicht starren, jedes Blinzeln unterdrücken, bis die Augen tränen? Sie sieht geradeaus, denkt vielleicht, dass die Kraft ihres Blicks das Einzige ist, was den Mullah davon abhält, den Hebel umzulegen. Saba stellt sich auf die Zehenspitzen und sucht die Menge hinter ihr nach
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ab, die Videokamera weiter auf den Kran und das Mädchen gerichtet. Dann hört sie Ponneh aufkeuchen, und es ist vorbei. Der Kran reißt Farnaz barmherzig schnell in die Luft, mit einem harten Ruck, hebt sie nicht langsam würgend an, und der Bogen des Todes wird von kurz strampelnden Beinen markiert, wie meistens, wenn Menschen mit Kränen erhängt werden. Der Mullah übergibt den Steuerhebel wieder dem Kranführer. Farnaz’ Körper schwingt in der Luft, ihr Hals unnatürlich gedehnt, der Kopf in einer grotesken, comicartigen Gebetshaltung nach rechts gekippt, die Füße, die in Turnschuhen stecken, wie in einer kindlichen Angsthaltung umeinandergeschlungen.
    Einen Moment lang verschlägt es der Menge den Atem, und keiner denkt mehr an Anstand oder Vorsicht. Frauen weinen hemmungslos. Ein Mann nimmt die Hand seiner Frau. Der Tschador eines jungen Mädchens rutscht nach hinten, und lockige rotbraune Haarsträhnen wehen ihr ins Gesicht, während sie zum ersten Mal den Tod erblickt. Saba ringt nach Luft. Haben diese Schaulustigen wie sie auf eine Begnadigung gehofft? Sind sie in dem Glauben hergekommen, Farnaz würde verschont werden? Manche von ihnen müssen es besser gewusst haben, und dennoch sind sie alle vom Schock überwältigt. Vielleicht hassen einige von ihnen sie wirklich, oder sie hatten gedacht, dass die vielen Narben in ihren Herzen sie schützen würden. Oder vielleicht sind sie gekommen, um ihr zu zeigen, dass sie geliebt wurde. Reza streckt den Arm aus und nimmt Ponnehs Hand. Weiß er es? Hat Ponneh es ihm erzählt, vielleicht in einem neckischen Moment, wie sie für ihren Hochzeitstag übt? Er nimmt auch Sabas Hand, und in jener schweigenden halben Sekunde stehen sie da, ohne an die Gefahr zu denken, in der sie sich befinden. Zum zweiten Mal ist Saba zusammen mit ihren Freunden fassungslos angesichts dieses grausamen neuen Iran und findet ungebührlichen Trost in ihrer Dreisamkeit, die ihr in diesem Moment der tiefsten Trauer das Herz wärmt. Diesmal sind sie bloß Zuschauer, alles riecht nach Tod und Benzin, und es gibt keinen abgebrochenen Stöckelabsatz, der der Grund dafür wäre.
    Saba will wegschauen, aber sie kann den Blick nicht losreißen. Sie folgt dem anmutigen Schwung von Farnaz’ Turnschuhen; der mädchenhafte pinkfarbene Streifen seitlich an jedem Schuh löst eine Welle von Übelkeit aus, die ihren Körper durchläuft. Dann ist sie von dem gebrochenen Genick gebannt, Farnaz’ hübschem Hals, von einem Strick abgeschnürt. Sie holt tief Luft und erinnert sich daran, wie es sich anfühlte, beinahe zu ertrinken, Wasser zu schlucken, verzweifelt um Atem zu ringen. Mahtab war dabei, bekam das gleiche Wasser in den kleinen Körper gezwungen, unfähig, das Meer zu bekämpfen, genau wie Farnaz sich nicht gegen den Strick oder den Kran wehren kann. Sie stellt sich Mahtab im Himmel vor – ein blitzartiger Augenblick nur, ehe der Abgrund sie verschlingt. Jetzt sieht sie ihre Mutter im Evin, wie sie in einer Kolonne von Todgeweihten marschiert, hil f los, in Gefängniskleidung, den Kopf gesenkt und die Hände gefesselt, eine von vielen Opfern von Massenhinrichtungen. Saba hat die Fotos gesehen, die grässlichen Reihen aufgehängter Menschen. Ist ihre Mutter dabei?
Nein
, beruhigt sie sich.
Das Evin-Gerücht war falsch. Ich hab Maman mit Mahtab in ein Flugzeug steigen sehen.
Sabas Zunge schwillt hinten im Mund an, und sie fasst sich an den Hals, verspürt den unbezähmbaren Drang, sich zu kratzen. Sie schluckt schwer und sieht wieder Farnaz’ zarten Körper. Das Bild ihrer Schwester, wie sie aufgibt, auf den Grund sinkt, stürmt auf sie ein und wird ebenso schnell von den schwieligen Händen des Fischers verdrängt, der sie beide herauszieht. Sie sind wieder zusammen, lassen los, und dann versinken sie mal in der schwarzen Tiefe unter ihnen, mal werden sie in ein Boot gezogen.
    Mahtab war da. Sie hat auf dem ganzen

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