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Ein Teelöffel Land und Meer

Ein Teelöffel Land und Meer

Titel: Ein Teelöffel Land und Meer Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Dina Nayeri
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Rückweg zum Strand Lieder gesungen. Wo ist sie jetzt?
    Der Iran hat viele Makel und Flecken bekommen, die Mahtab nicht mehr kennengelernt hat. Sie war gerade lang genug hier, um eine Kinderversion des Shomal zu erleben, Spiele am Strand, Nouruz-Feuer und Waten durch die
shalizars
; dann ist sie geflohen. Sie hat sich verbeugt und ist gerade rechtzeitig von der Bühne abgegangen. Doch jetzt ist Saba Zeugin von etwas geworden, das selbst die Harvard-Mahtab nicht gesehen hat – vielleicht würde die Journalistin in ihr es sehen wollen, und sie malt sich die Geschichten von Sabas Leben anhand von Zeitungsausschnitten aus, wie Saba das so oft umgekehrt getan hat.
    Ich sollte dieses Land bald verlassen
, denkt Saba.
Sonst tötet es mich vielleicht auch eines Tages.
    »Nein«, wimmert Ponneh. »Nein, nein. Es sollte doch nur gespielt sein.« Tränen strömen ihr über die fleckigen, rissigen Wangen, bilden Bäche, die das nahende Ende von Ponnehs Schönheit verkünden. Sie reißt sich von Reza los. Sie nimmt ihm die Kamera aus der Hand und beginnt, Fotos zu machen, ungeachtet ihrer nackten Arme, die aus dem Tschador ragen. Ehe Saba reagieren kann, hat Reza Ponneh schon beiseitegezogen, ihr die Kamera weggenommen und Saba bedeutet, mitzukommen. Auf der anderen Seite des Platzes geht Dr. Zohreh auf ihr Auto zu. Wahrscheinlich ist sie aus demselben Grund gekommen: um Zeugin zu sein und zu dokumentieren. Während Reza versucht, Ponneh durch die Menschenmenge zu manövrieren, krümmt sie sich plötzlich zusammen. Tiefe, quälende Schluchzer schütteln ihren Körper, lassen sie erbeben und in einem fiebrigen, beinahe wahnhaften Krampf zusammenbrechen.
    »Hör auf damit«, flüstert Saba durch zusammengepresste Zähne. »Ponneh, hör sofort damit auf.«
    Als sie die Autos erreichen, merkt Saba, dass auch ihr Gesicht nass ist. Aber Ponneh hat gewusst, was heute passieren würde, hat monatelang deswegen gelitten, ohne es jemandem zu erzählen. Trotz ihrer eigenen Narben weiß Saba, dass sie Ponnehs Schmerz niemals wird nachvollziehen können. Sie rückt ihren Tschador zurecht und hilft Reza, ihre Freundin ins Auto zu bugsieren.
    Dr. Zohreh kommt zu ihnen. »Hält sie durch?«
    Reza nickt. »Wir bringen sie nach Hause.« Er blickt Saba an, die sie einander vorstellt.
    Als Ponneh Dr. Zohreh sieht, steigt sie wieder aus Sabas Wagen. »Dr. Zohreh«, sagt sie mit belegter Stimme. »Ich komme mit Ihnen. Wir können die Bilder heute entwickeln.«
    »Was?«
, schaltet Reza sich ein, aber Ponneh beachtet ihn nicht.
    »Gerne.« Dr. Zohreh schaut sich um. »Wenn du willst –«
    »Es besteht kein Grund, der Frau Doktor Umstände zu machen«, sagt Reza. »Saba wird dich fahren, und ich folge euch beiden.«
    »Nein!« Ponneh wird jetzt sehr laut, und Saba erspäht einen
pasdar
, der sie von der anderen Straßenseite aus beobachtet. Sie stupst Reza an. Ponneh lässt sich nicht bremsen. »Es ist meine Schuld!« Sie schnappt nach Luft. »Sie hat den Mann abgewiesen, weil sie mich geliebt hat. Wisst ihr, was am schlimmsten ist?« Sie schluckt trocken. »Ich bin nicht … ich meine … ich hab sie auch geliebt, aber ich bin nicht –«
    »Ja, ich weiß.« Dr. Zohreh hebt Ponnehs Kinn an und flüstert: »Farnaz würde nicht wollen, dass du dich schuldig fühlst.«
    Ponneh lacht bitter auf. »Wissen Sie, was Khanom Basir oft gesagt hat?
Stirb nur für jemanden, der wirklich für dich brennt
. Irgendwer hätte Farnaz das sagen sollen.«
    »Wie traurig«, flüstert Reza, »mein armes Mädchen.« Die Worte landen schwer auf Sabas Brust.
    »Nein, nein, Ponneh-dschan«, sagt Dr. Zohreh. Sie streichelt Ponnehs Haar über dem Kopftuch. »Du irrst dich. Sie ist nicht für dich gestorben. Farnaz wollte nach ihrem eigenen Willen leben. Dafür ist sie gestorben. Es war ihre Bestimmung, und
das
ist ein sehr guter Grund zu sterben.«
    Ein guter Grund zu sterben.
Was für ein blöder Spruch
, denkt Saba. Wie kann Dr. Zohreh erwarten, dass Ponneh sich nicht schuldig fühlt? Begreift sie denn nicht, dass Ponnehs Schuld sich nicht auf irgendwas bezieht, was sie getan hat, sondern nur darauf, noch am Leben zu sein? Saba entsinnt sich nicht klar daran, mit Mahtab gegen das Wasser angekämpft zu haben. Sie erinnert sich nicht genau, ihre Hand losgelassen zu haben. Ihre schärfste Erinnerung ist die an Mahtab in dem Fischerboot. Aber manchmal, in ihren Albträumen, sieht sie ihre Schwester versinken und wird von Schuldgefühlen überwältigt, weil sie sich

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