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Ein Teelöffel Land und Meer

Ein Teelöffel Land und Meer

Titel: Ein Teelöffel Land und Meer Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Dina Nayeri
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Saba zu.
    Die alte Frau redet weiter. »Genau dasselbe hab ich schon mal in der Nähe von Teheran gesehen. Die verlesen, was sie verbrochen hat. Fragen sie, ob’s ihr leidtut. Und dann … seht ihr den Mullah da drüben? Der wird vortreten und sagen, dass Allah ihr noch mal eine Chance gewährt.«
    Obwohl Saba weiß, wie unmöglich das ist, obwohl sie weiß, wie unglaublich aufwendig es ist, einen Kran in dieses entlegene Dorf zu transportieren, wie weit sich dieses Ereignis herumgesprochen hat und wie sehr der Mullah, der neben dem Kran steht und sich den schmutzigen Bart krault, nach einer heiligen Aufgabe lechzen muss, lässt sie zu, dass die Äußerungen der alten Frau ihr Hoffnung geben. Gewiss sind auch Ponneh die konkreten Tatsachen bewusst, die diese Hoffnung vergeblich machen. Auch wenn sie anders als Saba keine Zeitungen liest, hat sie doch genug Zeit mit Dr. Zohreh verbracht, um Bescheid zu wissen. Doch Saba will jetzt nicht über Tatsachen oder Wahrscheinlichkeiten nachdenken. Die geflüsterte Möglichkeit keimt in ihrem Herzen, wächst blitzschnell heran und breitet sich in ihrem Körper aus, bis sie die Absicht und Überzeugung gewinnt, dass sie heute nicht mehr filmen wird als eine öffentliche Demütigung. Sie übersieht den Pflichteifer in den Augen des Mullahs, seinen Glauben an eine höhere Berufung – diese junge Frau ist eines der schönen Dinge in der Welt, wie die Warhols und Picassos und Riveras, die an irgendeinem dunklen Ort weggeschlossen sind, wie Ponnehs rote Stöckelschuhe oder ein Schulmädchen mit rosa Fingernägeln oder ein Song namens »Fast Car«. Sie zieht die Blicke der Welt auf sich.
    Der Mullah steigt auf die Plattform und nickt, als die Beamtin eine schwarze Kapuze über den Kopf der Gefangenen stülpt. »Es ist ein Spiel«, flüstert Saba. Ponneh wiederholt es. »Es ist ein Spiel, Farnaz-dschan, es ist bloß ein Spiel.« Der Mullah legt selbst die Schlinge um Farnaz’ Hals und vergewissert sich, dass der Strick sicher an dem Kranhaken befestigt ist. Mit einem Wink seiner Hand bringt er die Menge zum Schweigen, dann liest er Farnaz’ Verbrechen von einem grauen Blatt ab. »… Handlungen, die einem keuschen Leben und den Gesetzen des Islam zuwiderlaufen, Straftaten gegen die nationale Sicherheit, Gotteslästerung, Beteiligung an organisiertem Drogenschmuggel …«
    Ein Raunen läuft durch die Menge. Dutzende von verhüllten Köpfen und bärtigen Gesichtern blicken hoch. Farnaz zittert, atmet den Kapuzenstoff mit jedem panischen Luftzug ein und aus.
    »Das hat sie alles gemacht?«, fragt ein anderer Zuschauer die alte Frau. Saba lauscht angestrengt, während jede Zelle in ihrem Körper nur noch weglaufen oder sich wenigstens weiter nach hinten in die Menge zurückziehen will. Sie kann spüren, dass auch Reza mithört, und Ponneh ist unnatürlich ruhig geworden, ihr Körper steif wie ein Leichnam.
    Die alte Frau zuckt die Achseln. »Angeblich haben sie bei ihr zu Hause Drogen gefunden. Aber wenn ihr mich fragt, hat sie den falschen Mann verärgert.« Sie zeigt nach vorne, auf einen Bärtigen mit glühenden Augen, der ungeduldig zuschaut wie ein Gläubiger, der die Konfiszierung seiner Sicherheiten beobachtet. »Sie sollte den Sohn des Mullahs heiraten, aber sie hat sich geweigert. Ich glaube, sie hatte die falschen Freunde. Aktivisten und Bahai.«
    Ponneh senkt den Kopf und leckt sich Tränen von den Lippen. Sie bedeckt das Gesicht mit ihrem Ärmel und stützt sich auf Saba, der klar ist, was ihre Freundin jetzt denkt.
Es ist meine Schuld
.
    »Ist alles nur Theater«, sagt Saba. Sie hört Ponnehs Atem, flach und gepresst, spürt die Kamerahand unter ihrer Kleidung beben. Der Mullah klettert in den Sitz des Kranführers. Er hält seinen weißen Turban fest, während der Fahrer ihm hinaufhilft.
    »Was hat er vor?«, fragt Ponneh die alte Frau.
    »Er will es selbst machen«, sagt die.
    »Aber er tut nur so als ob«, ruft Saba ihr in Erinnerung.
    Die Frau scheint gelangweilt. »Er will hoch oben sein wie Allah, wenn er seine Gnade walten lässt.«
    Der leichte Sarkasmus in der Stimme der Frau beruhigt Saba ein wenig. Ponneh zittert jetzt heftiger, und dann hört Saba einen dumpfen Aufschlag. Ponneh hat die Kamera fallen gelassen. Die alte Frau blinzelt und zeigt auf den Saum von Ponnehs Tschador, doch in dem Moment kommt Reza angesprungen. »Verzeihung, Khanom«, sagt er zu der Alten. »Ich dachte schon, ich hätte meine Schwestern verloren.« Er bückt sich so beiläufig, als

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