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Ein Teelöffel Land und Meer

Ein Teelöffel Land und Meer

Titel: Ein Teelöffel Land und Meer Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Dina Nayeri
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fünfzig ist«, erklärte Mahtab. Sie sagte immer alles im Brustton der Überzeugung. »Bei dreißig hört man auf zu zählen, dann bist du offiziell alt.«
    »Du spinnst, es ist
nicht
egal«, sagte Saba, »wenn er nämlich fünfzig ist, stirbt er auch zehn Jahre früher.« Das gleiche lächerliche Gespräch führten sie etliche Male.
    Nach der Heirat beobachteten wir Erwachsenen Soghra mit Argusaugen und warteten auf Anzeichen dafür, was der Mann mit ihr gemacht hatte. Auch die Mädchen spürten das. »Was tun die?«, hörte ich Saba fragen, und Ponneh sagte, sie wüsste es
so ungefähr
. Anscheinend tuschelten Reza und sie manchmal darüber. Mahtab stellte ihnen hundert schmutzige, schmutzige Fragen, bis ich die Geduld verlor und sie trennte. Normalerweise lachten wir über das neugierige Gerede der Kinder, aber wegen der armen Soghra stieß meine Schöpfkelle an diesem Tag auf den Boden des Topfes, und ich verlor meine gute Laune.
    Als die Kinder Soghra das nächste Mal sahen, konnten sie es nicht fassen, dass sie überhaupt nicht verändert aussah. Ich versuchte, nicht über ihre Verblüffung zu lachen. Sie hatte nicht auf einmal einen komischen Gang, wie Reza prophezeit hatte, und ihr Gesicht war nicht plötzlich voller Muttermale. Ihre Füße waren nicht angeschwollen, und sie hatte keine riesigen Brüste bekommen. Und – an dieser Annahme bin ich schuld – es floss ihr kein Blut aus der Nase. Zugegeben, ich hatte ihnen erzählt, dass verheiratete Frauen oft Nasenbluten haben und dass man deshalb ein Laken braucht, um das erste Nasenbluten der Braut in der Hochzeitsnacht aufzufangen. Na und? Hätte ich ihnen mit ihren acht Jahren vielleicht die Wahrheit sagen sollen?
    Mir fielen jedoch zwei kleine Veränderungen an der Braut auf. Als sie über den Markt von Cheshmeh stolzierte und von ihrem Ehemann mit dem dicken Schnurrbart von einem Stand zum nächsten gezogen wurde, wirkte die zwölfjährige Soghra größer und verdammt enttäuscht von ihrem Schicksal. Aber vielleicht irre ich mich ja auch. Vielleicht lag das bloß an den hochhackigen Schuhen, die sie auf Befehl ihres Mannes trug, weil der sich immer eine elegante Frau gewünscht hatte (das war schließlich noch in der Zeit vor der Revolution). Und vielleicht ließ nicht Traurigkeit ihre Augen so dunkel erscheinen, sondern der dicke blaue Lidschatten.
    »Es ist eine Schande. Eine echte Schande«, sagte Agha Hafezi, als er mit seiner Frau und mir und Khanom Omidi Tee trank. »Wie kann das Gesetz die Vergewaltigung eines Kindes zulassen?«
    Ich rief ihm in Erinnerung, dass im Iran nur sehr wenig als Vergewaltigung gilt.
Zu wenig
.
    Aber warum bei so traurigen Dingen verweilen? Der Grund, warum ich Ihnen das erzähle, ist folgender: Hinterher, als die Kinder im Kreis saßen, sagte Saba etwas ungemein Seltsames für so ein junges Mädchen. Sie sagte, dass es gut für Soghra wäre, dass sie nun ein eigenes Haus hätte, in dem sie schalten und walten könnte und das sie nicht mit ihrer Schwester teilen müsste. Sie hätte eine logische Entscheidung getroffen, sagte sie, weil Kobra doch so langweilig wäre. Ich frage mich, ob sie das auch heute noch zu Soghra sagen würde, wenn sie ihr über den Weg liefe. Ich kann mir zwar nicht vorstellen, was in Sabas Ehe so vor sich geht, aber manchmal sehe ich unter dick aufgetragenem Lidschatten den gleichen traurigen, gequälten Ausdruck in dem geistesabwesenden Blick der armen Saba Hafezi.

Kapitel Dreizehn
    Sommer 1991
    M an sagt, dass Zwillinge die Kraft der Bewegungen des jeweils anderen aus der Ferne spüren. Saba hat Zeitschriftenartikel über einige wenige gelesen, die eine Veränderung im Leben des Zwillings gespürt haben, obwohl sie gar nichts von dessen Existenz wussten. In den furchtbaren ersten Tagen, nachdem sie erneut Zeugin des Todes geworden ist, versucht Saba, die Kräfte in Mahtabs Welt zu spüren. Sie gibt sich dunklen Gedanken an ihre Schwester hin, die im Wasser versinkt, an einen
pasdar
, der sie mit dem Messer bedroht und zwingt, Wahrheiten zu gestehen, die sie noch immer nicht kennt. Wenn die Bilder drohen sie zu übermannen, wehrt sie sie ab, indem sie sich schönere in Erinnerung ruft: Mahtab, die auf dem Rückweg zum Strand im Boot singt und im Flughafen die Hand ihrer Mutter hält.
Ja, es ist durchaus möglich.
    An ruhigen Vormittagen stellt sie sich ihre Schwester vor, ihr filmreifes Leben, und spricht mit ihr, wie das ihre amerikanischen Freunde tun würden.
Was soll ich jetzt machen?
,

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