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Ein Teelöffel Land und Meer

Ein Teelöffel Land und Meer

Titel: Ein Teelöffel Land und Meer Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Dina Nayeri
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hilft.
    Saba kann nicht absehen, was das für sie bedeuten wird. Khanom Mansuri stand nie im Mittelpunkt, aber sie war doch ein unverzichtbarer Bestandteil des Lebens in Cheshmeh. Sie hat zugehört, Hände getätschelt, Beruhigungen ausgesprochen, geschlafen. Wie soll das Leben ohne sie weitergehen? Wer wird sie nun um Geschichten über Mahtab bitten? Welche aufmerksamen Ohren wird Mahtabs Vermächtnis jetzt finden?
    Einen ganzen Tag lang weigert sich Agha Mansuri, sie beerdigen zu lassen. »Ich hab Khanom versprochen, dass wir gemeinsam in derselben Erde bestattet werden.« Er steht allein da, sieht schutzlos aus und erledigt, und bei seinem Anblick regt sich in Saba die Erinnerung an den Tag, als das Paar sich mit ihr zusammen
Familienbande
angeschaut hat – amerikanische Fernsehmenschen in ihrer Glitzerwelt. Er sagte »Schändlich, schändlich« und ließ doch nicht zu, dass Saba den Fernseher ausschaltete. Sie fragt sich, ob es je einen Menschen geben wird, der neben ihr beerdigt werden könnte – jemand anders als Mahtab. Jemand, der nicht an ihrer Seite geboren wurde, aber dort seinen Platz gefunden hat.
    »Aber Groß-Baba, sei doch vernünftig«, drängt Agha Mansuris Enkeltochter Nilu ihn. Eine Gruppe von Nachbarn steht in Agha Hafezis trockenem Lagerraum, dem einzigen, der groß und kühl genug ist, um einen Leichnam aufzubewahren. »Wir müssen sie
jetzt
begraben. Das verlangt der Islam.«
    »Bitte«, fleht der alte Mann mit heiserer Stimme, »gebt mir bloß zehn Tage Zeit, um zu sterben.«
    Saba packt Ponnehs Arm und merkt erleichtert, dass sie nicht als Einzige zittert.
    »Lieber Agha Mansuri!«, sagt Sabas Vater. »So etwas dürfen Sie nicht sagen.«
    »Wenn sie erst beerdigt ist, dürfen wir sie nicht mehr stören. Aber wenn wir warten … Ich bin sicher, sie würde auf mich warten wollen.« Er nickt vor sich hin, sicher, die richtige Entscheidung getroffen zu haben, aber als er aufschaut, hält niemand seinem Blick stand. Er sieht sich hektisch um, versteht die Welt nicht mehr. Links von ihm schluchzt Khanom Omidi in ein Taschentuch. Er dreht sich um und bemerkt Saba in einer Ecke, den Kopf zum Gebet gesenkt. »Saba Khanom.« Er schaut sie mit großen, bittenden Augen an. »Ich flehe dich an. Überzeuge sie. Du kannst gut mit Worten umgehen, Kind. Sag ihnen, dass wir sie nicht allein an diesen dunklen Ort schicken können. Sag ihnen, sie sollen zehn Tage warten, bis sie sie in die Erde senken. Sag es, liebes Kind.« Und dann vergräbt Agha Mansuri den Kopf in den Händen und weint hemmungslos. Agha Hafezi wendet sich ab und blickt Saba an, die Augen weit aufgerissen, unfähig, eine Entscheidung zu treffen.
    »Ich …«, beginnt Saba.
    »All dieses Gerede vom Tod«, sagt Abbas. Er klingt schwächlich, nur mit seiner eigenen Sterblichkeit beschäftigt. Saba fühlt sich angewidert von ihrer eigenen Wahl. Er entschuldigt sich, geht nach Hause und kommt nicht zurück.
    »Ihr Kinder«, sagt Agha Mansuri. »Ich bin alt und unwissend, aber ich kenne meine Frau.« Er wischt sich übers Gesicht und setzt eine finstere, prophetische Miene auf. Er bündelt eine gewaltige düstere Vorahnung in seinem Körper und stößt sie mit dünner Stimme hinaus: »Sie wird euch alle heimsuchen.«
    Saba geht zu ihm und legt einen Arm um seine Schultern. Er schnieft und wedelt mit einem drohenden Zeigefinger vor ihnen in der Luft. Agha Hafezi seufzt tief und spricht dann Bitten und Beruhigungen aus, eine großartige, wortgewaltige Rede über Leben, Tod und Ewigkeit. Der alte Mann schluchzt derweil weiter vor sich hin. Hinterher, in der lang gezogenen Stille, die mit kollektiver Sorge und den Erwartungen der Familie gefüllt ist, hustet er in ein grau angelaufenes Taschentuch und gibt zu erkennen, dass er gar nicht zugehört hat. »Zehn Tage sind nicht viel. Aber ich bin müde, Agha-dschan. Ich glaube, ich mach’s nicht mehr lange.«
    »Ich weiß nicht, was ich tun soll.« Der frustrierte Agha Hafezi meint niemand Speziellen. Irgendwie weiß jeder, dass nicht die Familie Mansuri, sondern Agha Hafezi die Entscheidung fällen wird. Er reibt sich matt die Augen mit Daumen und Zeigefinger. Der alte Mann stützt sich auf Sabas Arm.
    »Ehsan-dschan, ich verspreche, in zehn Tagen mache ich Ihnen keine Umstände mehr«, sagt er.
    Saba muss an den Tag denken, an dem ihre Mutter und Khanom Mansuri ihr in der Küche zeigten, wie man Teig an die Wände des großväterlichen
tanurs
legt. Wie viele Tage vor den Ereignissen im Flughafen

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