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Ein Teelöffel Land und Meer

Ein Teelöffel Land und Meer

Titel: Ein Teelöffel Land und Meer Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Dina Nayeri
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übersehen haben könnte.
    »Wer ist Dr. Zohreh?«, fragt Reza erneut, diesmal lauter. Ponneh holt tief Luft. Sie sieht ihn böse an und streicht mit einem zart pfirsichfarbenen Fingernagel über eine sorgsam gezupfte Braue – eine dezente Herausforderung der Sittenpolizei und ihrer Sehkraft.
    »Ich hab mich noch nicht entschlossen, mitzumachen«, sagt Ponneh. »Die Gruppe nennt sich Shirzan … Sabas Mutter und Dr. Zohreh haben sie nach der Revolution gegründet.«
    »Und wofür setzen die sich ein?«, fragt Reza.
    »Für Frauen, wofür denn sonst?« Ponneh lacht, als läge das doch wohl auf der Hand.
    »Das gefällt mir nicht«, sagt Reza und schüttelt den Kopf. »Du kriegst noch mehr Ärger.«
    Saba spielt mit dem Feuerzeug. »Reza hat recht. Du solltest die Finger davon lassen.«
    Ponneh schnaubt. »Was wisst ihr denn schon? Ihr wurdet schließlich nicht –« Sie verstummt und zupft etwas von ihrer Zunge. Dann, nach einem Moment, zuckt sie die Achseln und sagt: »Die haben eine Hütte in den Bergen, hoch über dem Meer. Es ist wunderschön da.« Ihre blutunterlaufenen Augen werden weich, und sie lehnt sich nach hinten gegen die Regale.
    »Du bist
da
gewesen?«, fragt Reza. »Das darf doch wohl nicht wahr sein.«
    Ponneh übergeht ihn. »Die sind einfach toll. Sie haben mir gesagt, dass persische Frauen ein inneres Feuer haben.« Sie klopft sich mit der freien Hand auf die Brust. »Die Mullahs und
pasdars
wissen das. Und was macht man, wenn man ein Feuer löschen will? Man wirft ein großes schweres Tuch darüber, nimmt ihm den Sauerstoff. Und genau das haben sie mit uns gemacht. Ist das nicht poetisch?«
    Sabas Mutter sagte oft ähnliche Dinge, als sie ein oder zwei Jahre nach der Revolution von 1979 plötzlich gezwungen war, ihren Töchtern Kopftücher anzuziehen, und als sie erstmals die Massen von formlosen, verhüllten schwarzen Gestalten auf den Straßen sah. Zahllose Reihen von Schlange stehenden Krähen. Zahllose Reihen von gelöschten Feuern. Hatte diese Gruppe irgendwas mit ihrem Verschwinden zu tun? Musste sie deswegen ins Gefängnis? Welches Verbrechen hatte sie begangen, dessen ihr ebenfalls zum Christentum übergetretener Ehemann nicht gleichermaßen schuldig war? Die Erinnerungen sind zu konfus, und sie nimmt es ihrer Mutter übel, dass sie sie so hil f los zurückgelassen hat.
    »Was machen die?«, will Reza wissen. »Ist es legal?«
    Ponneh nimmt sich eine halbe
ghotab
-Teigtasche. »Wie gesagt, sie haben in den Bergen am Meer eine Hütte. Und sie decken Tragödien auf, die Frauen im ganzen Land passieren. Sie dokumentieren sie – schreiben darüber, fotografieren sie heimlich für amerikanische Zeitungen.«
    Saba denkt über den Zeitpunkt von Dr. Zohrehs Botschaft an sie nach, die Motive, warum sie sich ausgerechnet jetzt mit ihr treffen will. Dr. Zohreh hätte keine gute Meinung von Saba, wenn sie wüsste, was sie getan hat, dass sie, statt zu studieren, einen reichen alten Mann geheiratet hat, einen Muslim, der den Glauben verdecken soll, den ihre Mutter offen zur Schau trug. Tief in ihrem Innern weiß Saba, dass sie trotz ihrer Musik kein Rebell mehr ist, dass sie die Überzeugungen ihrer Mutter gegen ihre eigenen, gefahrlosen Pläne eingetauscht hat.
    Vertrau mir
, sagte Saba oft zu ihrer Mutter, als sie gerade mal fünf Jahre alt war.
Ich weiß eine Menge
. Ihre Mutter lachte immer darüber, und Saba stellt sich vor, dass sie diese Worte auch jetzt nicht ernst nehmen würde. Wenn sie die Anschrift ihrer Mutter in Amerika hätte, würde sie die Worte auf einen Kassettenrekorder schreien und sie ihr schicken.
Vertrau mir einfach. Ich weiß eine Menge!
Aber Saba weiß nicht mal, ob ihre Mutter wirklich nach Amerika gegangen ist. Vielleicht sitzt sie in einer Zelle. Das Einzige, was sie hat, ist der Nimbus einer Frau und eines Mädchens in einem Flughafenterminal – eine schemenhafte Mahtab, die sie schuldbewusst und verlegen anschaut, weil sie sie zurücklässt. Ist es eine falsche Erinnerung? In letzter Zeit haben ihre Albträume von dem Messer schwingenden
pasdar
nachgelassen. Bis jetzt muss sie ihr Leben nicht für irgendeine Wahrheit verbürgen. Sie hat angefangen, nach ihrer Mutter zu suchen, und in Abbas’ Namen zwei Briefe an das Evin-Gefängnis geschickt, heimlich, um ihren Vater nicht zu beunruhigen.
    Rezas Augen sind ganz groß geworden, und er hat Haschisch und Alkohol völlig vergessen. »Das ist ja noch viel schlimmer, als ich dachte«, sagt er und fährt sich mit der

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