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Ein Teelöffel Land und Meer

Ein Teelöffel Land und Meer

Titel: Ein Teelöffel Land und Meer Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Dina Nayeri
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Hand durch sein ziemlich langes Haar.
    Saba seufzt. So kommen sie nicht weiter. »Was für Tragödien?«, murmelt sie, während sie versucht, sich die Hütte über dem Meer irgendwo zwischen Villen oder in den bewaldeten Bergen vorzustellen.
    »Sie haben überall in der Hütte Kisten versteckt«, erklärt Ponneh. »Flugblätter, Fotos, getippte und handgeschriebene Briefe. Alles geht nach Amerika, England, Australien, Frankreich – aber auch nach Rasht, Tabriz, Teheran, Isfahan. Sie schicken das Material an Zeitungen und Fernsehsender. Damit die Menschen, die keine Ahnung haben, von diesen Dingen erfahren. Und sie verteilen auch Flugblätter im Iran, an Frauen, die vielleicht mitmachen würden. Es ist wirklich beachtlich.«
    Ponneh zieht ein Foto aus der Tasche. Das Bild einer Frau mit geschorenem Kopf und von einer Auspeitschung stammenden blutigen Striemen, die ihren schönen Rücken entstellen. Die Bildunterschrift lautet: »Verbrechen: Zu lockeres Kopftuch im Wind heruntergerutscht«. Saba fällt die Schönheit der Frau auf, deren Gesicht im Halbprofil zu sehen ist, und schaut zu Ponneh hinüber, die auf den Nägeln kaut. Sie sieht Ponneh an, dass sie unsicher ist, ob sie dieses Geheimnis, diese Freundinnen mit ihr teilen soll, denn schließlich hat Ponneh etwas erlebt, das Saba nicht erlebt hat. Die Frau auf dem Foto konnte wahrscheinlich nie fromm genug sein, genau wie Ponneh. Nie unterwürfig genug. Denn ihr Verbrechen stand ihr in das schöne Gesicht geschrieben. »Ist das nicht grotesk?«, sagt Ponneh, mit hartem und trockenem Tonfall.
    »Sei nicht so eingebildet, Ponneh-dschan«, sagt Reza, als würde er auf etwas ganz anderes reagieren, irgendein privates Gespräch zu einem früheren Zeitpunkt.
    »Das ist genau die Reaktion, die Dr. Zohreh erreichen will«, sagt Ponneh. »Empörung. Ich finde es grotesk, dass dieses arme Mädchen … nein … dass
ich
diese Spuren für immer tragen muss. Was, wenn ich mal heirate?« Ihre Stimme bricht, und sie windet sich unter ihrer Kleidung, als könnte sie die Blutergüsse spüren. Laut Khanom Omidi heilen sie nicht gut, und Ponnehs Haut wird stellenweise taub und verfärbt bleiben. Nervenschaden. Aber sie kann von Glück sagen, dass ihre Wirbelsäule unversehrt ist.
    Reza nickt. »Ponneh, du bist wunderschön«, sagt er, als könnte auch er die Blutergüsse spüren.
    Saba pustet einen Lungenzug Rauch in den Abfluss. »Die Allerschönste«, sagt sie und drückt Ponnehs Schulter. »Sei nicht traurig. Nicht in der Kammer irdischer Wonnen.«
    Ponneh lächelt schwach. Sie redet noch ein Weilchen über die grässlichen Dinge, die gar nicht so weit weg geschehen sind, während Saba über ihr eigenes Leben nachdenkt, ihr Glück, das gute Schicksal, das sie sich selbst gestaltet hat. Irgendetwas an Dr. Zohrehs Gruppe kommt ihr nicht richtig vor – als würden sie sich nicht wehren, sondern anpassen. Weil die Frauen dieses verfluchte Land nicht verlassen, sondern sich darin durchschlagen, bis die derzeitige Situation erträglich wird. Sie findet ihren eigenen Weg besser, ihren kolossal logischen Weg, sich unauffällig zu verhalten, bis sie sich befreien kann. Sie hat eine Ehe, die es ihr ermöglicht, sich frei zu bewegen und ihre Zukunft unbemerkt zu planen, während Dr. Zohreh Bilder an gesichtslose Verbündete im Ausland schickt – Politiker und Reporter, die vielleicht nie reagieren werden. In die westliche Welt hineinschreit, um Freunde aufzurütteln, die es vielleicht gar nicht gibt.
    Als Ponneh endet, sitzen sie schweigend da. Aber ihnen ist nicht unbehaglich zumute, weil sie an diese bizarre Dreierkonstellation gewöhnt sind, die sie sich geschaffen haben und nach der sich jeder von ihnen auf seine Art sehnt. »Bitte, mach da nicht mit«, sagt Reza. »Das ist nicht richtig. So erreicht man nichts. Hab Geduld, und eines Tages wirst du feststellen, dass du glücklich bist. Wie unsere Mütter. Wenn du denkst, sie würden in dieser Welt keine Rolle spielen, liegst du falsch. Ihr müsst beide aufhören, etwas Besonderes sein zu wollen.« Ponneh schnaubt und sieht weg. Er fleht erneut: »Bitte, tu’s nicht.«
    »Keine Sorge, ich mach nicht mit«, sagt Ponneh und reicht Saba die Flasche.
    Sie verbringen noch eine Stunde mit Alkohol und Gebäck, unterhalten sich, während Reza leise summt. Wenn sie allein wären, würde Saba ihn bitten, etwas anderes zu singen. Sie würden sich ihre Musik anhören, den Bügel vom Kopfhörer ihres Walkmans auseinanderbiegen, damit jeder

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