Ein Toter fuehrt Regie
aber dann stand wieder Owi vor ihm, das krankhafte Genie… Zuzutrauen war’s ihm schon, daß er die Fäden so gesponnen hatte. Wenn Olscha recht hatte, wenn Brockmüller wußte, wo Owis Aufzeichnungen steckten – warum hielt er dann den Mund? Doch nur, um sie als erster und vielleicht einziger in die Hand zu bekommen. Und warum? Weil von dem, was drinstand, kein anderer wissen durfte. Und wenn das mit seinen Fingerabdrücken auf Kuhrings Wecker und der idealen Gelegenheit zu einem Mordversuch richtig war, dann konnte man auch absehen, was in Owis Aufzeichnungen stand: daß nämlich der Brockmüller dem Kuhring – aus welchen Gründen auch immer – ans Leder wollte.
Und wenn nun nicht Ossianowski die Vitaminkapseln mit Zyannatrium gefüllt hatte, sondern Brockmüller, und Owi in seiner genialen Gerissenheit nicht nur das, sondern auch die Reaktionen der Kriminalbeamten vorausgesehen hatte, dann…
«Hallo, Herr Mannhardt, sind Sie noch dran?»
«Ja doch!» Mannhardt mußte sich entscheiden, jetzt, blitzschnell. Und er tat es, wenn auch widerwillig. «Hören Sie, Olscha, Sie setzen sich in Ihren Wagen und fahren zu Brockmüller raus, ich komme auch hin… Ach, Scheiße, eh ich hier von Kladow aus drüben bin, bei dem Berufsverkehr durch Spandau durch… Die sollten doch endlich mal ‘ne Brücke bauen!»
«Nehmen Sie doch die Fähre.»
«Das dauert doch ewig. Aber warten Sie… Rufen Sie mal bei der Wasserschutzpolizei an, die sollen mir ein Boot zur Anlegestelle nach Kladow schicken; da bin ich in drei Minuten mit dem Auto da. Wenn die Knaben nicht spuren, dann soll Dr. Weber mal Dampf dahinter machen.»
«Mach ich.»
«Sie warten dann drüben in Wannsee am BVG-Anleger auf mich, ja?»
«Oder Sie auf mich.»
«Schön; in vierzig Minuten müßten wir’s schaffen!» Mannhardt warf den Hörer auf die Gabel und wischte sich den Schweiß von der Stirn.
Koch schaute herein. «Was ist denn los?»
«Wahrscheinlich weiß Brockmüller, wo Owis Aufzeichnungen stecken. Ich laß mich jetzt nach Wannsee übersetzen und seh mal nach, was er macht. Mit Olscha zusammen. Du schmeißt inzwischen den Laden hier. Sollte hier was passieren, was wir wissen müssen, dann über Funk… Also: Tschüs!» Mannhardt fegte hinaus.
O Wunder, die Wasserleichensucher waren wirklich zur Stelle, als er die Anlegestelle am Rohrsängersteig erreichte. Viel gaffendes Publikum an den Stegen der Stern- und Kreisschiffahrt – alles wollte heim zur Freybrücke; Spandau, Heerstraße.
Nach einer ebenso kurzen wie förmlichen Begrüßung setzte er sich ans Heck und gab den beiden Knaben zu verstehen, daß er keine Lust zum Quasseln hatte. Bloß mal zehn Minuten Ruhe!
Ab ging’s. Motorlärm wie auf einem Seenotkreuzer… Ein Segelboot müßte man haben und was zum Fummeln an Bord.
An dieser Stelle mußte er damals, 1953 mit Annegret über den Wannsee gepaddelt sein, im Leihboot natürlich. Siebzehn Jahr, blondes Haar. Alles noch Traum, alles noch Hoffnung. Daran gemessen war er längst gestorben. Na und?
Träumen zu können, das war die große Kraft, die ihn weiterleben ließ, die Chance, in bewußt geweckten Träumen alles zu erleben, was die Welt zu bieten hatte. Erfüllte Science-fiction-Visionen en masse, Reisen in die Zeit, vor und zurück, Entmaterialisierung des eigenen Körpers und neue Materialisierung auf fernen Kontinenten und Planeten, das Hineinschlüpfen in Heroen, die noch lebten oder längst gestorben waren. Opium, alles Opium; aber wie anders ließ sich diese Welt ertragen? Er wollte immer nur fliehen, ohne Ziel, nur immer fliehen, und er war Kriminaloberkommissar in Berlin (West), verheiratet, 2 Kinder, festgelegt auf diese Rolle – jahraus, jahrein. Und verdiente gut, war ein echter Kumpel und erfolgreich, besaß ein Haus im Grünen und haufenweise Krempel, erlebte viel und…
«Wir sind da!»
Wo denn…?
«In Wannsee drüben.»
Wannsee…?
«Drüben ist der Bahnhof.»
Was sollte er am Bahnhof Wannsee?
«Ihr Kollege wartet sicher schon.»
Ach so – Olscha. Brockmüller. Ossianowski. Das versteckte Manuskript. Die Realität.
Olscha, dieser verkümmerte Wikinger, war natürlich noch nicht eingetroffen… Olscha wirkte irgendwie knabenhaft und mickrig – trotz seiner 25 Jahre und seinen 1,75. Ein Typ wie… wie ein Jockey oder so. Offensichtlich hatte er sich auch aufs Pferd geschwungen und war hergeritten.
Mannhardt hatte das Gefühl, eben in einer wildfremden Stadt angekommen zu sein, und keiner am Bahnhof,
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