Ein toter Lehrer / Roman
verändert. Ich sagte ja bereits, ich glaube, er hatte Angst, auch wenn ich fand, er hat es ziemlich gut überspielt. Als würde es vor sich hinköcheln, wissen Sie. Wie ein Topf auf kleiner Flamme. Aber dann, am Montag. Nun ja. Da kochte es auf einmal über, da konnte er es nicht mehr verbergen. Man musste nur mit ihm sprechen. Ihn nur mal kurz ansehen. Aber es hat ihn halt niemand angesehen. Niemand hat mit ihm geredet. Niemand schenkte ihm Beachtung. Er war eben Samuel. Nur um Mr. Travis machen die Lehrer an dieser Schule einen noch größeren Bogen, aber im Falle des Direktors aus völlig anderen Gründen.
Aber ich habe mit ihm gesprochen. Ich habe ihn angesehen. Mir fiel auf, dass er am Montag noch die Sachen trug, in denen er am Freitag nach Hause gegangen war. Soweit ich das beurteilen kann, hatte er zwei Anzüge, einen beigefarbenen und einen braunen, und er trug nie zwei Tage hintereinander denselben. Er zog auch jeden Tag ein anderes Hemd an. Und eine andere Krawatte. Das fiel normalerweise nicht auf, es sei denn, man hatte bemerkt, dass … na ja, dass er eine strenge Reihenfolge einhielt. Montags trug er eine bestimmte Kombination, dienstags eine andere. Vom Stil her unterschieden sie sich kaum. Ich glaube fast, die Hemden hatte er im Fünferpack gekauft. Und die Krawatten auch. Nicht, dass ich in solchen Dingen snobistisch veranlagt wäre. Kleider machen Leute, so heißt es doch, nicht wahr? Nun, Al Capone trug Gamaschen, und Jesus Christus war in Lumpen gehüllt, und damit hat sich dieses Thema für mich mehr oder weniger erledigt. Aber ich weiß, wie sehr die jüngere Generation auf solche Dinge achtet. Sehen Sie sich zum Beispiel TJ an. Wenn er keinen Jogginganzug trägt, dann ein italienisches Sportjackett und eine Krawatte mit einem Knoten, so groß wie meine Faust. Wie Fußballspieler, wenn sie außerhalb des Platzes Interviews geben.
Deshalb ist es mir bei Samuel aufgefallen. Mir schien, er nahm es sehr genau mit solchen Dingen, aber nicht aus ästhetischen Gründen. Es war, als hätte er sich ein System eingerichtet, damit er nicht mehr darüber nachdenken musste. Montags trug er Anzug A mit Hemd B und Krawatte C. Punktum.
Deshalb fiel es mir an dem Montag auch sofort auf. Er trug die Sachen vom Freitag, noch mit den Knitterfalten vom Freitag. Und mit denen von Samstag und Sonntag noch dazu, wie es aussah. Er hatte Augenringe und sah aus wie eine Comicfigur, die bei einer Prügelei den Kürzeren gezogen hat, und durch das Weiße seiner Augen zogen sich rote Äderchen. Es sah aus, als hätte er im Sessel oder auf dem Sofa oder auf dem Autositz geschlafen – wenn er überhaupt ein Auge zugetan hatte.
Als dann die erste Pause zu Ende war und alle aus dem Lehrerzimmer strömten, wollte er auch gehen, und da legte ich ihm eine Hand auf die Schulter. Er zuckte zusammen, fuhr herum und taumelte einen Schritt zurück, und dabei stieß er gegen ein Stuhlbein und stürzte fast. TJ hatte die Szene beobachtet und prustete los. Er gab einen Kommentar ab, irgendeine Stichelei so in der Art, auf welchem Trip ist der denn, dann ging er, und ich blieb mit Samuel allein im Lehrerzimmer zurück.
Alles in Ordnung?, fragte ich ihn. Samuel, sagte ich. Er sah die ganze Zeit zur Tür, wissen Sie. Samuel, sagte ich noch einmal. Ist alles in Ordnung? Du wirkst so … na ja … Ich führte den Satz nicht zu Ende.
Was?, fragte er. Ach so. Ja, alles in Ordnung. Entschuldige mich. Und er versuchte, an mir vorbeizuhuschen, aber ich hielt
ihn am Arm fest. Er zuckte wieder zusammen, wollte wieder weg. Was ist?, fragte er. Was ist los?
Nichts, sagte ich. Sein Ton erschreckte mich. Er war so aggressiv. So abweisend. Überhaupt nicht wie Samuel. Denn normalerweise war er immer sehr freundlich. Eigentlich übertrieben freundlich. Er war höflich, aber so wie ein Kellner in einem schicken Restaurant, einer, dem das Lokal nicht unbedingt gehört, der einem jedoch sicher keinen Tisch anbieten würde, wenn es so wäre.
Nichts, sagte ich noch einmal. Ich habe mich nur gefragt, ob alles in Ordnung ist. Weiter nichts.
Da lachte er. Eigentlich war es mehr ein Prusten, wie bei TJ . Oh ja, sagte er. Alles prima. Alles bestens. Und dann versuchte er noch einmal, an mir vorbeizukommen.
Aber ich ließ ihn nicht. Ich weiß nicht, warum, doch auf einmal erschien es mir ungeheuer wichtig, dass ich mit ihm redete, herausbekam, was ihn bedrückte. Deshalb streckte ich den Arm aus und versperrte ihm den Weg.
Samuel sah mich an. Er
Weitere Kostenlose Bücher