Ein toter Lehrer / Roman
mir selbst. Natürlich gibt es Momente, in denen ich mich nach Gesellschaft sehne, und gewöhnlich kommen sie immer dann, wenn niemand da ist, der mir Gesellschaft leistet. Wie nennt man das, Murphys Gesetz? Jedenfalls, wenn ich ins Lehrerzimmer gehe, dann normalerweise, um die Stimmen Erwachsener zu hören. Selbst TJs Anwesenheit kann trotz all seiner Unzulänglichkeiten beruhigend wirken, wenn man den ganzen Tag lang den schrillen Tönen der Jugend ausgesetzt war. Aber Samuel, Samuel hat sich nie wohl gefühlt mit sich selbst. Ich hoffe, ich klinge jetzt nicht zu wichtigtuerisch, Detective, aber ich habe mich immer als spirituelles Barometer dieser Schule gesehen. Das ist natürlich keine Rolle, von der irgendjemand Notiz nehmen würde, eher eine Erweiterung meines Fachs. Genau genommen nicht einmal das. Ich interessiere mich bloß für Menschen, das ist alles. Man könnte auch sagen, ich bin neugierig. Ich möchte wissen, wie die Menschen zurechtkommen mit sich selbst. Was sie antreibt. Was an ihnen zehrt. Dazu braucht es keine besonderen Kenntnisse. Man muss nur mehr zuhören als reden. Sie scheinen gut zuhören zu können, Detective, ich bin sicher, Sie wissen genau, was ich meine. Und bei Samuel war es von Anfang an offensichtlich. Nicht, dass er tun würde, was er getan hat. Lieber Himmel. Wie kann ein ausgeglichener Mensch damit rechnen, dass jemand so etwas tut? Nein, vielmehr war offensichtlich, dass er betrübt war. Traurig. Traurig, das trifft es. Traurig und einsam und nicht in der Lage, sein Leben in neue Bahnen zu lenken.
Das machte ihn verletzlich. Besonders verletzlich. Außerdem hatte er eine schwierige Zeit, wie Sie vielleicht wissen. Die Waffe bereitete mir zwar Sorgen, aber ich glaube nicht einmal, dass er da schon beschlossen hatte, Gebrauch davon zu machen. Sie werden jetzt sicher fragen, warum er sie dann bei sich trug, nicht wahr? Vor dem Amoklauf hätte ich Ihnen erzählt, was er mir erzählt hat. Ich habe ihm geglaubt, aber in erster Linie, weil ich ihm glauben wollte. Obwohl es natürlich eine Lüge war, dass sie nicht funktioniert. Vielleicht war die Sicherheitsblockierung aktiviert oder wie man das nennt, und deshalb ging sie nicht los. Funktioniert das so bei Waffen? Ich kenne mich mit solchen Dingen nicht aus. Er hat die Waffe auch nicht seinen Sechstklässlern gezeigt. Das weiß ich, weil ich – unauffällig natürlich – Alex Mills gefragt habe, einen unserer gemeinsamen Schüler, als er mir nach dem Unterricht beim Aufräumen half. Zu der Zeit war ich beruhigt. Ich nahm an, Samuel sei zur Vernunft gekommen und die Sache habe sich erledigt. Dass er vielleicht nie vorgehabt hatte, die Waffe im Unterricht zu zeigen, auf die Idee bin ich gar nicht gekommen.
Warum trug er sie also bei sich? Ich sage Ihnen, was ich glaube. Sie haben ja sicher von TJs Verhalten gehört, nehme ich an? Und Sie haben auch gehört, wie die Schüler Samuel behandelt haben. Und, wohl das Wichtigste: Sie haben von dem Fußballspiel gehört. Die Schüler haben ihm das Bein gebrochen, Detective. Absichtlich. Ich weiß, ich weiß, angeblich war es ein Unfall, und der Direktor hat ihnen das auch geglaubt, aber da dürfte er an der ganzen Schule der Einzige gewesen sein. Wenn er es denn wirklich geglaubt hat. Aber können Sie sich das vorstellen? Diese Rowdys haben ihn monatelang gehetzt, und eine Weile konnte sich Samuel sicher noch einreden, das sei alles harmlos – traumatisch zwar, aber keine körperliche Bedrohung –, doch dann brechen sie ihm das Wadenbein.
Haben Sie sich schon mal ein Bein gebrochen, Detective?
Oder einen anderen Knochen? Einen Arm vielleicht?
Also, ich schon, und ich sage Ihnen, es tut weh. Es ist eine Qual. Ich kann Schmerzen nicht gut ertragen – als Frau wäre ich wohl eher ungeeignet, fürchte ich –, und Samuel erschien mir auch nicht gerade unerschütterlich. Er hatte Angst, Detective, das will ich damit sagen. Vielleicht war die Waffe … Er sagte ja, sie habe seinem Großvater gehört. Ich weiß nicht, aber vielleicht gab ihm das ein besseres Gefühl. Dass er sie hatte, sie bei sich trug. Vielleicht fühlte er sich dadurch sicherer. Weniger verletzlich. Soweit ich weiß, hatte er sie seit dem Fußballspiel dabei. Aber wie gesagt, das muss nicht heißen, dass er sie auch benutzen wollte.
Trotzdem hatte sich etwas verändert. Ich behielt ihn im Auge, wie gesagt, und am Beginn der darauffolgenden Woche, der Woche des Amoklaufs, da hatte sich ganz eindeutig etwas
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