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Ein toter Lehrer / Roman

Ein toter Lehrer / Roman

Titel: Ein toter Lehrer / Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Simon Lelic
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zu ihm sagen sollte. Man rechnet ja nicht damit, dass man je in so eine Situation gerät, nicht wahr? Jemand wie ich jedenfalls nicht. Eines würde mich interessieren, Detective: Wie, glauben Sie, wie hätten Sie reagiert? Sie an meiner Stelle? Denn Sie hätten das Richtige getan, da bin ich mir sicher, nicht nur wegen Ihrer Ausbildung. Obwohl es mir jetzt natürlich vollkommen klar ist. Ich hätte ihm die Waffe entreißen und ihn zu Boden drücken sollen. Ich hätte zum Direktor gehen sollen, ihm sagen, dass er die Polizei rufen muss. Das hätte ich tun sollen. Ich wünschte, ich hätte es getan. Natürlich wünschte ich das.
    Aber an dem Tag habe ich auf eine Erklärung gewartet. Das tun vernünftige Menschen doch, nicht wahr, wenn sie mit etwas konfrontiert werden, was den Horizont ihres alltäglichen Lebens überschreitet? Sie erlauben sich kein Urteil. Nach dem Motto: im Zweifel für den Angeklagten. Man fürchtet vielleicht das Schlimmste, aber tief im Inneren weiß man, dass es eine völlig logische Erklärung geben wird. Das ist doch der Ausdruck. Du wirst sehen, sagt man sich, es gibt eine völlig logische Erklärung.
    Und Samuel hatte eine.
    Er warf die Waffe in den Koffer, recht unbekümmert. Dann klappte er den Deckel zu und ließ die Verschlüsse zuschnappen. Sie ist echt, sagte er, aber sie funktioniert nicht. Das letzte Mal wurde sie 1945 abgefeuert. Sie hat meinem Großvater gehört, sagte er. Oder besser, er hatte sie sich angeeignet. Gestohlen. Gewonnen. Wie man es lieber betrachten mag. Er hat sie von einem Deutschen bekommen, von einem Nazi. Mein Großvater hat in Italien gekämpft.
    Das ist faszinierend, finden Sie nicht auch? Ich unterrichte Religion, aber mein Fach und Samuels Fach sind so stark miteinander verflochten, dass es eigentlich einen gemeinsamen Lehrplan geben sollte. Ist jedenfalls meine Meinung. Denn was ist Religionslehre anderes als Sozialgeschichte? Was ist der Glaube anderes als Einfühlung in die Vergangenheit? Aber dazu ist der Religionsunterricht nicht da, hat man mir gesagt. Meine Ansichten seien altmodisch oder avantgardistisch, je nachdem, wen Sie fragen. Und das wird wohl auch so sein. Ich will mich nicht beklagen. Und ich laufe Gefahr, vom Thema abzuschweifen. Was ich sagen will, Detective, Samuel hatte mein Interesse geweckt. Seine Erklärung war logisch und faszinierend zugleich. Die Waffe sei ein Relikt aus dem Krieg, und er nehme mit der Sechsten gerade die Schlacht um Monte Cassino durch, sagte er. Er wolle sie fesseln. Ihnen etwas zeigen, was sie auch mal von den Stühlen reißt. Solche Sachen sagte er oft, denn er wollte nichts mehr, als das Interesse der Schüler zu wecken. Gut, was das angeht, kann sich jeder Lehrer in ihn hineinversetzen, ganz gleich, was er unterrichtet, aber Samuel hatte es zu seiner Mission gemacht. Er hatte sich dieser Aufgabe voll und ganz verschrieben. Er war fest entschlossen. Und das musste er auch, nicht wahr? Um sich all das gefallen zu lassen, was er sich gefallen ließ. Um überhaupt noch zur Schule zu kommen nach allem, was passiert war.
    Er hatte mich überzeugt, aber ein wenig Vernunft war mir noch verblieben.
    Meinst du wirklich, das ist eine gute Idee?, fragte ich ihn. Das ist immer noch eine Waffe. Und wir sind hier in einer Schule.
    Er zuckte mit den Schultern.
    Ich sagte: Ganz im Ernst, Samuel. Ich finde wirklich, du solltest vorsichtig sein. Die Eltern, der Direktor, die Schüler, um Himmels willen … Stell dir nur mal vor, wie sie reagieren könnten.
    Jetzt lächelte Samuel tatsächlich, und dieses Lächeln gefiel mir nicht. Aber es war nur ein Flackern, ein Funke, der aufleuchtete und dann erlosch, und nachdem er erloschen war, ließ sich kaum noch sagen, ob er überhaupt da gewesen war. Vielleicht hast du recht, sagte Samuel. Vielleicht hast du recht.
    Ich bin froh, dass du das sagst, war meine Antwort, denn ich war wirklich froh. Aber dann läutete es, und alle standen auf, weil die letzte Doppelstunde vor der Mittagspause begann. Und keiner von uns sagte noch etwas.
    Das war am Mittwoch, genau eine Woche vorher. Von da an behielt ich ihn im Auge. Soweit mir das möglich war zumindest. Denn das war gar nicht so einfach, da wir in unterschiedlichen Gebäudeflügeln unterrichteten und keiner von uns viel Zeit im Lehrerzimmer verbrachte. Wir hatten beide unsere Gründe, wissen Sie. Er war eine recht einsame Gestalt, und dasselbe trifft wohl auch auf mich zu. Aber ich sage mir gern, dass ich mich wohl fühle allein mit

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