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Ein Toter zu wenig

Ein Toter zu wenig

Titel: Ein Toter zu wenig Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Dorothy Leigh Sayers
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ist wunderbar, der Herr Doktor. Stellen Sie sich vor, Monsieur, das arme Kind kann einfach die schrecklichen Dinge nicht vergessen, die es gesehen hat.« Sie beugte sich näher zu ihm her, damit das Kind sie nicht hörte. »Wir sind geflüchtet - aus dem verhungernden Rußland - vor einem halben Jahr. Ich darf es Ihnen gar nicht sagen - sie hat so gute Ohren, und dann die Schreie, das Zittern, die Krämpfe - das beginnt dann alles wieder von vorn. Wir waren Skelette, als wir hier ankamen -  mon Dieu! -  aber das ist jetzt besser. Sehen Sie, sie ist noch mager, aber sie ist nicht verhungert. Sie wäre schon viel dicker, aber ihre Nerven lassen sie nicht essen. Wir Älteren, wir vergessen -  enfin, on apprend à ne pas y penser -  aber diese Kinder! Wenn man jung ist, Monsieur,  tout ça impressionne trop. «
    Lord Peter entledigte sich der Fesseln britischer Umgangsformen und antwortete in der Sprache, in der Anteilnahme nicht zur Stummheit verurteilt ist.
    »Aber es geht ihr schon viel besser, viel besser«, erklärte die Mutter stolz. »Der große Herr Doktor, er wirkt Wunder.«
    » C'est un homme précieux «, sagte Lord Peter.
    » Ah, Monsieur, c'est un saint qui opère des miracles! Nous prions pour lui, Natasha et moi, tous les jours. N'est-ce pas ,  chérie?  Und bedenken Sie, Monsieur, daß er das alles unentgeltlich macht,  ce grand homme, cet homme illustre!  Als wir hier ankamen, hatten wir nicht einmal Kleider auf dem Leib - wir waren ruiniert, verhungert.  Et avec ça que nous sommes de bonne famille - mais helas, Monsieur, en Russie, comme vous savez, ça ne vous vaut que des insultes - des atrocités. Enfin , der große Sir Julian sieht uns, er sagt: >Madame. Ihr kleines Mädchen interessiert mich sehr. Sagen Sie nichts weiter, ich mache sie gesund, umsonst -  pour ses beaux yeux', a-t-il ajouté en riant. Ah, Monsieur, c'est un saint, un véritable saint!  Und Natascha geht es schon viel, viel besser.«
    »Madame,  je vous en félicite .«
    »Und Sie, Monsieur? Sie sind noch jung, gesund, stark - leiden Sie auch? Ist es vielleicht noch immer der Krieg?«
    »Kleine Überbleibsel von einer Bombenneurose«, sagte Lord Peter.
    »Ah, ja! So viele gute, tapfere junge Männer -«
    »Sir Julian kann ein paar Minuten für Sie erübrigen, Mylord, wenn Sie jetzt mit hereinkommen«, sagte der Diener.
    Lord Peter nickte seiner Nachbarin feierlich zu und durchquerte das Wartezimmer. Als die Tür des Sprechzimmers sich hinter ihm schloß, erinnerte er sich, wie er einmal verkleidet ins Dienstzimmer eines deutschen Offiziers getreten war. Er hatte jetzt dasselbe Gefühl - das Gefühl, in eine Falle getreten zu sein, und eine Mischung aus Verwegenheit und Scham.
    Er hatte Sir Julian Freke schon einige Male von weitem gesehen, aber noch nie aus der Nähe. Während er jetzt gewissenhaft und vollkommen wahrheitsgemäß die Umständeseines jüngsten Nervenanfalls schilderte, betrachtete er eingehend den Mann vor ihm. Dieser war größer als er, hatte enorm breite Schultern und wunderbare Hände. Sein Gesicht war schön, feurig und unmenschlich; er hatte fanatische, zwingende Augen von einem strahlenden Blau inmitten des rotbraunen Gestrüpps von Kopf- und Barthaar. Es waren nicht die ruhigen, freundlichen Augen eines Hausarztes, es waren die grübelnden Augen des begnadeten Wissenschaftlers, und sie erforschten einen durch und durch. »Na ja«, dachte Lord Peter, »dann brauche ich wenigstens nicht allzu deutlich zu werden.«
    »Ja«, sagte Sir Julian, »ja. Sie haben zuviel gearbeitet. Ihren Kopf zu sehr belastet. Vielleicht sogar mehr - sollen wir sagen, Ihren Kopf zermartert?«
    »Ich stand vor einer sehr erschreckenden Situation.«
    »Aha. Unerwartet womöglich?«
    »Sehr unerwartet, allerdings.«
    »Aha. Und das nach einer Zeit großer körperlicher und geistiger Anstrengungen?«
    »Hm - vielleicht. Nichts Ungewöhnliches eigentlich.«
    »So. Diese unerwartete Situation - hatte sie mit Ihnen persönlich zu tun?«
    »Sie erforderte eine unverzügliche Entscheidung über mein Handeln - doch, in diesem Sinne hatte sie gewiß mit mir persönlich zu tun.«
    »Ganz recht. Sicher mußten Sie irgendeine Verantwortung übernehmen.«
    »Eine sehr schwere Verantwortung.«
    »Von der außer Ihnen auch andere betroffen waren?«
    » Eine  andere Person in sehr einschneidender Weise und eine große Zahl anderer indirekt.«
    »Aha. Und es war Nacht, und Sie saßen im Dunkeln?«
    »Zunächst nicht. Ich glaube, ich habe

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