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Ein Toter zu wenig

Ein Toter zu wenig

Titel: Ein Toter zu wenig Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Dorothy Leigh Sayers
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Wales Road schlief; aber mein Warmwasserkessel ist außerdem defekt und gurgelt und quietscht, was das Zeug hält, wozu die Leitungen noch vernehmlich ächzen. Zu meiner Freude war der Wasserkessel gerade in dieser Nacht in Hochform und tutete, pfiff und rumpelte wie ein ganzer Güterbahnhof. Ich gab dem Höllenlärm fünf Minuten Vorsprung, und nachdem ich damit rechnen konnte, daß die Schläfer das Fluchen aufgegeben und die Köpfe unter die Decken gesteckt hatten, um nichts mehr zu hören, drehte ich den Wasserstrahl kleiner und verließ das Badezimmer, ohne zu vergessen, das Licht brennen zu lassen und die Tür hinter mir abzuschließen. Dann holte ich meinen Armenhäusler und trug ihn so leise wie möglich nach oben.
    Die Rumpelkammer ist ein kleiner Speicher gegenüber dem Zimmer der Dienstboten und dem Kesselraum und hat eine Falltür zum Dach, die man über eine kurze Holzleiter erreicht. Ich stellte die Leiter an, wuchtete meinen Armenhäusler hinauf und stieg ihm nach. Noch immer lief das Wasser in den Kessel, der darob einen Lärm machte, als müßte er eine Eisenkette verdauen, und der kleingedrehte Wasserstrahl ließ das Stöhnen der Leitungen fast zum Gebrüll anschwellen. Ich brauchte wirklich nicht zu fürchten, jemand könne bei diesem Lärm noch etwas anderes hören. Ich zog die Leiter hinter mir aufs Dach. Zwischen meinem Haus und dem Endhaus der Queen Caroline Mansions ist nur ein sehr schmaler Zwischenraum. Ich glaube, als die Queen Caroline Mansions gebaut wurden, hat es sogar irgendwelchen Krach wegen verbauter Fenster gegeben, aber die Parteien haben sich dann wohl irgendwie geeinigt. Jedenfalls reichte meine zwei Meter lange Leiter ohne weiteres hinüber. Ich band die Leiche darauf fest und schob sie hinüber, bis das andere Ende der Leiter auf der Brüstung des gegenüberliegenden Hauses ruhte. Dann nahm ich einen kurzen Anlauf über Kesselraum und Rumpelkammer hinweg und landete sicher auf der anderen Seite, denn die Brüstung ist zum Glück ebenso niedrig wie schmal.
    Der Rest war einfach. Ich trug meinen Armenhäusler über die flachen Dächer, um ihn wie den Buckligen im Märchen irgend jemandem auf die Treppe zu legen oder durch einen Schornstein hinabzulassen. Etwa auf halbem Wege aber dachte ich auf einmal: »Nanu, hier muß doch der kleine Thipps wohnen«, und dabei fiel mir sein dummes Gesicht und sein dummes Geschwätz über die Vivisektion ein. Ich stellte es mir einfach vergnüglich vor, mein Paket bei ihm abzuladen und zu sehen, was er damit anfing. Also legte ich mich aufs Dach und sah an der Rückwand des Hauses hinunter. Es war stockfinster, und es regnete inzwischen wieder stark, und ich wagte es, meine Taschenlampe zu benutzen. Es war die einzige Unvorsichtigkeit, die ich beging, aber die Gefahr, daß man mich von den gegenüberliegenden Häusern aus sehen könnte, war sehr gering. In einem kurzen Aufblitzen des Lichtstrahls sah ich, was ich kaum zu hoffen gewagt hatte: ein offenes Fenster unmittelbar unter mir.
    Ich kannte diese Wohnungen gut genug, um zu wissen, daß es entweder das Badezimmer- oder das Küchenfenster sein mußte. Ich machte eine Schlinge in einen dritten Verband, den ich bei mir hatte, und schlang sie dem Toten unter die Arme. Ich verzwirnte den Verband zu einem Doppelseil und band das andere Ende an der Eisenrunge eines Schornsteinkastens fest. Dann ließ ich unsern Freund über die Dachkante hinunter. Ich selbst kletterte ihm an einem Regenrohr nach, und kurz darauf konnte ich ihn durch Mr. Thipps' Badezimmerfenster ins Haus ziehen.
    Inzwischen war ich schon etwas übermütig geworden, und so opferte ich noch ein paar Minuten, um ihn schön zurechtzulegen und präsentabel zu machen. Plötzlich fiel mir ein, wie es wäre, wenn ich ihm auch noch den Kneifer aufsetzte, der mir am Victoria-Bahnhof zufällig in die Hände geraten war. Ich fand ihn in meiner Tasche, als ich nach dem Messer kramte, um einen Knoten durchzuschneiden, und als ich sah, welch würdevolles Aussehen er dem Toten geben würde, von der zusätzlichen Irreführung abgesehen, setzte ich ihm das Ding auf die Nase, beseitigte alle Spuren meiner Anwesenheit, so gut es ging, und verschwand auf demselben Wege, auf dem ich gekommen war. Mit Hilfe von Regenrinne und Seil gelangte ich mit Leichtigkeit wieder aufs Dach.
    Ich ging ruhig zurück, übersprang den Zwischenraum und trug Leiter und Laken wieder ins Haus. Mein diskreter Komplize begrüßte mich mit vertrautem Gurgeln und Pfeifen.

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