Ein Tropfen Blut
Kleine liegt noch im Aufwachraum. Kommen Sie nur, Britta müsste eigentlich Zeit haben.«
»Britta?«, fragte Schäfer nach.
»Frau Doktor Seidel. Sie hat die OP durchgeführt.« Während sie die letzten Silben sprach, drehte sich die Frau in dem blauen Kittel um und stiefelte entschlossen tiefer in die Katakomben des Herner Marienhospitals.
Annika Schäfer hatte Mühe, einigermaßen Schritt zu halten. »Können Sie mir schon irgendetwas sagen?«, wollte die Beamtin wissen.
»Nun, die Frau wird es überleben. Aber vorerst ist sie nicht vernehmungsfähig. An der muss sich ein richtiger Sadist vergangen haben.«
»Gibt es das auch in Einzelheiten?«, fragte Schäfer mit trockenem Mund.
»Ich war nicht mit im OP. Fragen Sie Frau Doktor Seidel. Ich schau eben nach, ob sie Zeit hat. Warten Sie bitte hier solange.«
Schäfer sah sich suchend um und entdeckte einen unbequemen Plastikstuhl in einer kleinen Nische. Als sie sich gähnend setzte, zeigte die Digitaluhr über der Schleuse zu den Operationssälen halb vier Uhr an.
Das KK 12 bearbeitete alle Verbrechen gegen die sexuelle Selbstbestimmung. Nachdem Annika Schäfer in diese Abteilung versetzt worden war, war ihre Motivation in den Keller gesunken. Bis dahin waren Leichensachen für sie das Schlimmste gewesen, aber die Konfrontation mit den Opfern von Vergewaltigungen, Nötigungen und Missbrauch berührte sie wesentlich mehr als der Umgang mit den beharrlichen Schweigern.
Mehrere Monate war sie widerwillig zum Dienst geschlichen, hatte versucht, nichts an sich heranzulassen und eine Fassade um sich herum aufzubauen. Ihre Abteilung war etwa zu fünfzig Prozent mit Frauen besetzt und fast immer fiel ihr oder ihren Kolleginnen die Aufgabe zu, mit den Opfern zu sprechen, den Tathergang aufzunehmen oder bei den notwendigen gynäkologischen Untersuchungen dabei zu sein. Sie war kurz davor gewesen, das Handtuch zu werfen, aber dann hatten sie und ihre Kollegen in rascher Folge mehrere Fälle aufklären und die Täter stellen können. Seitdem ging es ständig besser, zwar nur schrittweise, aber die Arbeit war für Schäfer nun auszuhalten.
Ohne es richtig wahrzunehmen, kramte sie in dem durchsichtigen Beutel, den man ihr an der Pforte des Krankenhauses bereits in die Hand gedrückt hatte. Neben der Frau waren wenigstens ihre Papiere gefunden worden. Die Akte ›Fall Janine Klein‹ konnte zurzeit lediglich mit den Personalien des Opfers gefüllt werden.
Eine Tür fuhr mit einem leisen Summen auf, gleich darauf stürmte eine hoch gewachsene Frau in den Flur.
Die Kommissarin griff nach ihrer Tasche und stand auf. »Frau Doktor Seidel?«
»Die bin ich«, nickte die Ärztin. »Kripo?«
»Ja. Mein Name ist Schäfer.«
»Sie sehen aus, als ob Sie einen Kaffee gebrauchen könnten«, antwortete Seidel müde.
»Danke, aber dann kriege ich überhaupt kein Auge mehr zu.«
»Tja, dann nicht. Ich brauch auf jeden Fall einen. Kommen Sie.«
Der Aufenthaltsraum für das Personal befand sich nur zwei Türen weiter. Während sich die Beamtin an den mit Flecken übersäten Tisch hockte und ihren Notizblock hervorkramte, füllte die Ärztin zwei Becher mit einem fast schwarzen Gebräu. Dann setzte sie sich ebenfalls hin.
Schäfer grinste, als sie den Becher vor sich sah, und nahm aus Höflichkeit einen kleinen Schluck. Seidel legte die Füße auf einen weiteren Stuhl und leerte ihre Tasse mit einem Zug.
»Nun, Doktor Seidel, als Ihr Anruf bei uns einging, war es ja noch nicht sicher, ob es sich tatsächlich um eine Vergewaltigung handelt…«
Seidel schnaufte durch. »Vergewaltigung ist gut. Eher eine missglückte Hinrichtung.«
»Können Sie ein wenig verdeutlichen, was genau passiert ist?«
Mit einer heftigen Bewegung setzte die Ärztin, die vielleicht ein, zwei Jahre älter als die Beamtin war, ihre Tasse ab. »Ich kann Ihnen nur Mutmaßungen anbieten. Eine Vergewaltigung ist immer eine Gewalttat, aber so etwas hab ich lange nicht mehr gesehen.«
Schäfer bearbeitete geduldig den Schnapper ihres Kugelschreibers und musterte ihre Gesprächspartnerin. Drängeln brachte in solchen Situationen gar nichts.
»Letzten Endes war es eine Vergewaltigung«, berichtete die Medizinerin schließlich. »Ich weiß nicht, ob der Kerl die Frau vorher, während oder danach so schrecklich verprügelt hat, aber es gibt kaum eine Stelle an ihrem Körper ohne Prellungen oder Hämatome. Wir haben sicherheitshalber jedes Körperteil geröntgt, aber bis auf einen Jochbeinbruch sind die Knochen
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