Ein Tropfen Zeit
Waldrand auf uns; sie hatte ihren Mantel umgeschlagen und die Kapuze unter dem Kinn befestigt. Aber ihr langes Gewand, das sie mit dem Gürtel zu raffen versuchte, glitt immer wieder bis unter die Knöchel und hing völlig durchnäßt um ihre Füße. Sie lächelte, wie ihre Tochter Margaret lächeln würde, wenn man ihr für ein bestandenes Abenteuer ein Pony in Aussicht gestellt hätte. Auf Isolda aber wartete nur trostlose Ungewißheit.
»Ich habe meinem Kopfkissen ein Nachthemd übergezogen und Decken darauf gehäuft«, sagte sie. »Das könnte sie eine Weile täuschen, wenn sie die Tür einbrechen sollten.«
»Gebt mir Eure Hand«, sagte er. »Eure Röcke laßt ruhig nachschleifen. Bess wird zu Hause warme Kleider für Euch finden.«
Sie legte lächelnd ihre Hand in die seine. Mir war, als fühlte ich sie auch in meiner Hand, als führten wir Isolda gemeinsam durch den Schnee – er war nicht mehr ein Verwalter im Dienst einer anderen Frau und ich nicht mehr ein Geist aus einer späteren Welt; wir beide waren Männer, die ein Ziel und eine Liebe hatten – eine Liebe, die weder er noch ich jemals gestehen würden.
Als wir an den Fluß und die morsche Brücke kamen, die halb zerbrochen mitten im Strom lag, sagte er: »Ihr müßt mir vertrauen, daß ich Euch hinübertragen kann, wie ich Eure Tochter tragen würde.«
»Aber wenn du mich fallen läßt, so werde ich dir im Gegensatz zu Margaret keine Ohrfeige geben«, antwortete sie.
Er lachte und trug sie sicher ans andere Ufer, wobei er noch einmal bis zur Hüfte durchnäßt wurde. Wir gingen unter den niedrigen, schneeverhangenen Bäumen weiter, und die Stille um uns her war nicht mehr bedrohlich wie zuvor, als wir gekommen waren, sondern anheimelnd wie durch einen Zauber und eine seltsame Erregung.
»Im Tal bei Treverran liegt der Schnee noch höher«, sagte er, »und wenn Ric Treverran uns sieht, wird er vielleicht nicht den Mund halten. Seid Ihr stark genug, den Hang bis zum oberen Weg hinaufzusteigen? Dort erwartet mich Robbie mit den Ponys. Ihr sollt entscheiden, hinter wem Ihr reiten mögt. Ich bin der Vorsichtigere.«
»Dann reite ich mit Robbie«, sagte sie. »Heute abend lasse ich alle Vorsicht fahren, und zwar auf immer.«
Wir bogen nach links ab, um aus dem Tal emporzusteigen, und ließen den Fluß hinter uns. Der Schnee reichte meinem Begleiter bei jedem Schritt bis über die Knie und erschwerte das Vorwärtskommen.
»Wartet«, sagte er und ließ ihre Hand los, »vielleicht liegt vor dem Weg eine Schneewehe.« Er kämpfte sich vorwärts und schob den Schnee mit beiden Händen beiseite. Ich blieb mit Isolda allein und konnte einen Augenblick das kleine, blasse, entschlossene Gesicht unter der Kapuze betrachten.
»Alles in Ordnung«, rief Roger, »hier ist der Schnee fester. Ich komme und hole Euch.«
Ich sah, wie er sich umdrehte und auf uns zukam, wobei er sich den Hang hinuntergleiten ließ, und plötzlich schien mir, als ob sich dort zwei Männer bewegten und beide ihre Hände ausstreckten. Das mußte Robbie sein, der die Stimme seines Bruders gehört hatte und vom oberen Weg heruntergekommen war.
Mein Instinkt gebot mir, mich nicht zu rühren, sondern sie allein weitergehen zu lassen. Isolda verließ mich, und ich verlor sie, Roger und den dritten Schatten in einem plötzlichen Schneewirbel aus den Augen. Ich stand zitternd da, den Drahtzaun zwischen mir und dem Bahndamm, und es war nicht Schnee, der mir den Hügel gegenüber verbarg, sondern die graue Zeltwand über den Waggons des Güterzuges, der durch den Tunnel brauste.
20
Der Selbsterhaltungstrieb ist allen Lebewesen gemeinsam; er verbindet uns vielleicht mit jenem Urhirn, das nach Magnus' Worten einen Teil unseres Erbes bildet. Mir übermittelte er ein Alarmsignal, ohne das ich auf die gleiche Weise den Tod gefunden hätte wie Magnus. Ich weiß noch, daß ich gleichsam blind von der Böschung hinunterstolperte und in jenem Torweg Schutz suchte, wo das Vieh gestanden hatte. Dann hörte ich die Waggons über mir ins Tal rumpeln und zwängte mich durch eine Hecke und fand mich auf einem Feld hinter Klein-Treverran, dem Haus des Holzarbeiters, wieder. Von hier war es nicht weit zu dem Feld, auf dem ich meinen Wagen abgestellt hatte.
Ich spürte weder Übelkeit noch Schwindel – das Signal zum Erwachen hatte mir das erspart und mir das Leben gerettet, aber während ich zusammengekauert und noch am ganzen Leibe zitternd hinter dem Steuerrad saß, fragte ich mich, ob es wohl eine
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