Ein Tropfen Zeit
Sybell gesehen?«
»Ja, Mylady.«
»Sie ist wirklich sein Mündel. Wenn ich sterbe, würde es beiden sehr gelegen kommen, denn er könnte sie heiraten und rechtmäßig zur Herrin von Carminowe machen.«
Sie bückte sich, hob das zahme Eichhörnchen auf, lächelte zum erstenmal, seit wir das kleine Zimmer betreten hatten, das spärlich ausgestattet war wie die Zelle einer Nonne, und sagte: »Dies ist jetzt mein Vertrauter. Er frißt mir die Haselnüsse aus der Hand und sieht mich mit seinen glänzenden Augen immer so klug an.« Wieder ernst geworden, fuhr sie fort: »Du weißt, daß ich sowohl hier als auch in Carminowe wie eine Gefangene gehalten werde. Ich kann nicht einmal meinem Bruder Sir William Ferrers in Bere Nachricht senden. Seine Frau hat ihm gesagt, ich hätte den Verstand verloren und sei gefährlich. Sie glauben es alle. Ja, körperlich war ich wohl krank, und ich habe gelitten, aber darum bin ich bisher noch nicht verrückt geworden.«
Roger ging leise an die Tür, öffnete und horchte. Aus dem Gang hörte man immer noch Gelächter; dort amüsierte man sich weiter über die Otterpfote. Roger schloß die Tür.
»Ob Sir William es glaubt oder nicht, weiß ich nicht«, sagte er, »aber über Eure Krankheit wird seit Monaten geredet. Darum bin ich gekommen, Mylady, um zu erfahren, ob es eine Lüge ist oder nicht, und jetzt weiß ich, daß man Lügen verbreitet.«
Während Isolda mit dem Eichhörnchen im Arm dastand, glich sie ihrer jüngeren Tochter Margaret. Sie sah den Verwalter lange an und erwog gewiß seine Vertrauenswürdigkeit.
»Ich habe dich einst nicht gemocht«, sagte sie. »Du hattest ein allzu scharfes Auge, blicktest stets nach deinem Vorteil, und da es dir besser paßte einer Frau anstatt einem Mann zu dienen, ließest du meinen Vetter Henry Champernoune sterben.«
»Mylady, er war todkrank und wäre ohnehin wenige Wochen später gestorben.«
»Vielleicht, aber die Art, wie er starb, deutete auf unziemliche Eile. Ich habe daraus eines gelernt – mich vor Kräutertränken zu hüten, die ein französischer Mönch gebraut hat. Sir
Oliver wird mich auf andere Weise loszuwerden versuchen, durch einen Dolch, oder indem er mich erdrosselt. Er wird nicht warten, bis die Natur meinem Leben ein Ende macht.« Sie setzte das Eichhörnchen auf den Boden, trat ans Fenster und blickte wieder in den fallenden Schnee. »Aber bevor es dazu kommt, gehe ich lieber selbst hinaus und sterbe. Wenn alles so verschneit ist wie jetzt, werde ich rascher erfrieren. Wie wär's damit, Roger? Trag mich in einem Sack über deiner Schulter fort und wirf mich irgendwo über den Rand einer Klippe – ich wäre dir dankbar dafür.«
Das war scherzhaft gemeint, aber es klang doch bitter, Roger trat neben sie ans Fenster, starrte ebenfalls in den dichtverhangenen Himmel hinauf und spitzte die Lippen zu einem geräuschlosen Pfeifen.
»Wenn Ihr den Mut hättet, Mylady, ließe es sich machen«, sagte er.
»Wenn ich den Mut hätte und du die Mittel«, entgegnete sie.
Sie sahen einander an, denn plötzlich hatten sie denselben Gedanken, und sie sagte rasch: »Wenn ich von hier fortliefe zu meinem Bruder nach Bere, so würde Sir Oliver nicht wagen, mir zu folgen, denn er könnte seine Lügen über meine Geisteskrankheit nicht mehr aufrechterhalten. Aber bei diesem Wetter sind die Wege unpassierbar. Bis Devon würde ich es nicht schaffen.«
»Nicht gleich«, meinte er, »aber wenn der Schnee geschmolzen ist.«
»Wo würdest du mich verbergen?« fragte sie. »Er braucht nur durch das Tal zu gehen und im Gutshaus der Champernounes bei Treesmill nach mir zu suchen.«
»Das mag er ruhig tun«, antwortete Roger. »Er würde es verriegelt und leer finden, denn meine Herrin ist in Trelawn. Aber es gäbe andere Verstecke, wenn Ihr Euch mir anvertrauen wolltet.«
»Und das wäre?«
»Mein eigenes Haus, Kylmerth. Robbie und meine Schwester Bess sind dort. Es ist nur ein einfaches Bauernhaus, aber Ihr seid willkommen, bis das Wetter besser wird.«
Sie schwieg eine Weile; ich sah ihr an, daß sie immer noch an seiner Aufrichtigkeit zweifelte.
»Ich muß mich entscheiden«, sagte sie. »Hier bleiben, als Gefangene, den Launen eines Mannes preisgegeben, der es kaum abwarten kann, eine Frau loszuwerden, die ein ständiger Vorwurf und obendrein eine Last für ihn ist, oder mich einer Gastfreundschaft anvertrauen, die du mir verweigern kannst, wenn es dir einfällt.«
»Es wird mir nicht einfallen«, antwortete er, »und sie
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