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Ein Tropfen Zeit

Titel: Ein Tropfen Zeit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Daphne DuMaurier
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todmüde aus; ich sagte ihr das nicht, um sie loszuwerden. Sie stand zögernd auf und ging zur Tür. Dann blickte sie sich noch einmal um.
    »Irgend etwas an dieser Sache kommt mir merkwürdig vor«, sagte sie langsam. »Ich habe das Gefühl, daß du mehr weißt, als du sagst.« Ich fand keine Antwort. »Versuch ein bißchen zu schlafen«, fuhr sie fort. »Es könnte sein, daß du die Ruhe bald nötig hast.«
    Ich hörte, wie sie die Schlafzimmertür schloß, streckte mich aus, die Hände unter dem Kopf gefaltet, und versuchte meine Gedanken zu sammeln. Es gab nur zwei Möglichkeiten. Die erste war, wie ich ursprünglich angenommen hatte, daß Magnus beschlossen hatte, sich den Steinbruch anzusehen und entweder den Weg verloren oder sich den Fuß verstaucht hatte. In diesem Fall würde er dort so lange warten, bis es Tag wurde. Oder aber … die zweite Möglichkeit fürchtete ich weit mehr. Magnus hatte einen Trip gemacht. Er hatte den Inhalt von Flasche B in ein kleines Gefäß gegossen, das er bei sich trug, war in Par ausgestiegen und zu Fuß weitergegangen – zum Steinbruch, zur Kirche, irgendwohin –, hatte die Droge getrunken und gewartet, bis die Wirkung eintrat. Und dann war er für seine Handlungen nicht mehr verantwortlich. Wenn die Zeit ihn in jene Welt entführte, die wir beide kannten, würde er nicht unbedingt das gleiche erleben wie ich; es konnte alles ganz anders sein, der Zeitpunkt konnte früher oder später liegen, aber wenn er jemanden berührte, drohte ihm die gleiche Strafe wie mir: Übelkeit, Schwindel, Geistesverwirrung. Magnus hatte die Droge, soviel ich wußte, mindestens drei oder vier Monate lang nicht mehr genommen; er, der Erfinder, war nicht daran gewöhnt und besaß vielleicht nicht die gleiche Widerstandskraft wie ich, sein Versuchskaninchen, um die Folgen zu ertragen.
    Ich schloß die Augen und versuchte mir vorzustellen, wie er bergauf über die Felder wanderte, die Mixtur schluckte und vor sich hinlachte. »Ich bin Dick zuvorgekommen!« Dann der Sprung zurück in die Zeit, unten die Bucht, um ihn her die Mauern des Hauses, Roger dicht neben ihm – wohin führte er ihn? Zu welcher Begegnung auf den Hügeln oder am Strand? In welchem Monat, welchem Jahr? Sah er ebenfalls, wie das schlingernde Schiff mit gebrochenem Mast in die Bucht hineintrieb, wie die Reiter drüben auf der Anhöhe erschienen und Bodrugan ertränkten? Auch wenn er all das sah, verhielt er sich vielleicht anders als ich. Ich kannte seine impulsive Natur: Möglicherweise stürzte er sich Hals über Kopf in den Fluß und kämpfte sich zum anderen Ufer durch – aber es gab gar keinen Fluß, nur das enge Tal, Gestrüpp, Sumpf und Bäume. Dort, in jener unzugänglichen, einsamen Gegend, lag er jetzt und rief um Hilfe, und niemand hörte ihn. Ich konnte nichts tun, nicht bevor es Tag wurde.
    Ich glitt in einen schlafartigen Zustand hinüber, schreckte plötzlich aus einem verwirrenden Traum auf, der sogleich verblaßte, und döste wieder ein. Im Morgengrauen fand ich wohl einen tieferen Schlaf, denn ich erinnere mich, daß ich um halb sechs nach der Uhr sah und dachte, weitere zwanzig Minuten könnten nicht schaden, und als ich dann die Augen öffnete, war es schon halb acht.
    Ich machte mir eine Tasse Tee, schlich hinauf und wusch und rasierte mich. Vita war schon wach. Sie brauchte nicht zu fragen; sie wußte, daß Magnus nicht gekommen war.
    »Ich fahre zum Bahnhof von Par«, sagte ich. »Sie wissen sicher, ob er die Fahrkarte abgegeben hat. Dann versuche ich von dort aus, seiner Spur nachzugehen. Irgend jemand muß ihn gesehen haben.«
    »Es wäre viel einfacher, die Polizei anzurufen«, mahnte sie noch einmal.
    »Wenn ich am Bahnhof nichts erfahre, gehe ich selbst zum Revier.«
    »Wenn du nicht anrufst, tue ich es«, rief sie hinter mir her, als ich hinausging.
    Am Bahnhof hatte ich keinen Erfolg; ein Mann, der vor dem Gebäude herumspazierte, sagte, der Schalter werde erst eine halbe Stunde später geöffnet. Ich nutzte die Zeit, um bis an die Brücke vorzugehen, die über den Bahndamm führte und von der aus ich das Tal überblicken konnte. Dies war einst das Mündungsgebiet gewesen, hier trieb Bodrugans Schiff mit gebrochenem Mast, in dieser Bucht suchten die Männer Schutz und fanden statt dessen den Tod. Selbst heute noch, im Dickicht und schilfbewachsenen Moor, konnte man den früheren Verlauf des Flusses leicht in den Windungen des Tales verfolgen. Ein Kranker oder Verletzter konnte unter jenen

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