Ein Tropfen Zeit
dem der junge Henry Bodrugan an Pocken gestorben war. In jener anderen Zeit lag er vielleicht immer noch dort. In jener anderen Zeit mischte Bruder Jean vielleicht gerade einen Höllentrank, um der Sache ein Ende zu machen, und beauftragte dann Roger, die Mutter des Jungen und Joanna Champernoune, dessen Tante, zu benachrichtigen. Hiobsbotschaften überall um mich her, in beiden Welten. Roger, der Mönch, der junge Bodrugan, Magnus. Wir alle waren Glieder einer ineinander verschlungenen Kette und durch Jahrhunderte miteinander verbunden.
» In solcher Nacht
Las einst Medea jene Zauberkräuter,
Den Äson zu verjüngen.«
Hier konnte Magnus gesessen und die Droge eingenommen haben. Er konnte überall dort gewesen sein, wo ich einmal war. Ich fuhr zu dem Hof, auf dem Julian Polpey vor sechshundert Jahren gewohnt und wo der Postbote mich vor einer Woche entdeckt hatte, und ging den Viehweg lang nach Lampetho. Wenn ich nachts durch den Sumpf gegangen war, mein Körper in der Gegenwart, mein Geist in der Vergangenheit, so konnte Magnus dasselbe getan haben. Selbst jetzt, da kein Wasser, keine Flut die kleine Bucht füllte, sondern schilfdurchsetzte Wiesen sich darin ausbreiteten, war der Weg mir vertraut wie eine Szene aus einem Traum. Der Weg verlief sich jedoch im Morast, und ich sah keinen Pfad mehr, keine Möglichkeit, auf die andere Seite des Tales zu gelangen. Gott allein mochte wissen, wie ich in jener Nacht hinübergekommen war, als ich Otto und den anderen Verschwörern gefolgt war. Während ich am Lampetho-Hof vorbei und wieder zurückging, kam ein alter Mann heraus und rief seinen Hund, der bellend auf mich zulief. Er fragte, ob ich meinen Weg verloren hätte; ich verneinte und bat ihn um Entschuldigung, weil ich sein Grundstück betreten hatte.
»Sie haben nicht zufällig gestern abend jemand diesen Weg entlanggehen gesehen?« fragte ich. »Einen hochgewachsenen Mann mit grauem Haar und Spazierstock?«
Er schüttelte den Kopf. »Hier kommen nicht viele Besucher her«, antwortete er. »Der Weg führt nirgends hin, nur zum Hof. Die Fremden bleiben meist am Strand von Par.«
Ich dankte ihm und ging zum Wagen. Aber ich war nicht ganz überzeugt. Vielleicht war er zwischen halb neun und neun im Hause gewesen, vielleicht lag Magnus im Sumpf hinter dem Hof … Aber irgend jemand mußte ihn doch gesehen haben! Hatte er die Droge genommen, so mußte die Wirkung schon vor Stunden verflogen sein. Wenn er sie um halb neun oder neun geschluckt hatte, so mußte er um zehn, elf oder spätestens um Mitternacht wieder zu sich gekommen sein.
Als ich ankam, parkte ein Polizeiauto vor dem Haus, und vom Flur aus hörte ich, wie Vita sagte: »Hier ist mein Mann.«
Sie stand mit einem Polizeibeamten und einem Schutzmann im Musikzimmer.
»Wir haben leider noch nichts herausgefunden, Mister Young«, sagte der Inspektor. »Ich erhielt nur einen kleinen Hinweis, der uns vielleicht weiterbringen könnte. Man hat gestern abend zwischen neun und halb zehn einen Mann gesehen, der Ihrer Beschreibung von Professor Lane entsprach und auf dem Stonybridge-Weg oberhalb von Treesmill am Trenadlyn-Hof vorbeiging.«
»Am Trenadlyn-Hof?« wiederholte ich, und man sah mir gewiß meine Überraschung an, denn der Inspektor fragte rasch: »Also kennen Sie den Hof?«
»Natürlich. Er liegt etwas höher als Treesmill, es ist der kleine Hof unmittelbar am Wege.«
»Ganz recht. Haben Sie eine Ahnung, warum Professor Lane gerade in diese Richtung ging?«
»Nein«, antwortete ich zögernd. »Was sollte er da? Ich hätte eher gedacht, daß er weiter unten, bei Treesmill, durchs Tal ginge.«
»Nun, man hat uns auf jeden Fall mitgeteilt, daß Professor Lane am Trenadlyn-Hof gesehen wurde«, sagte der Inspektor. »Die Frau von Mr. Richard, dem der Hof gehört, sah ihn von ihrem Fenster aus, aber ihr Bruder, der etwas weiter oben wohnt, sah niemanden. Wenn Professor Lane nach Kilmarth wollte, so ist das ein langer Umweg für jemanden, der nach der Bahnfahrt noch ein bißchen Spazierengehen will.«
»Das finde ich auch«, pflichtete ich zögernd bei. »Professor Lane interessierte sich allerdings sehr für historische Stätten, und vielleicht war dies der Grund für seinen Spaziergang. Ich glaube, er suchte nach einem alten Gutshaus, das nach seiner Ansicht früher einmal dort gestanden hat. Aber es war keiner der Höfe, die Sie erwähnen, sonst hätte er dort vorgesprochen.«
Ich wußte jetzt, warum Magnus – und der Beschreibung nach mußte es
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