Ein Tropfen Zeit
gewiß schon einen aufregenden Abend zusammen verbracht, dem viele weitere folgen werden. Aber ich schreibe aus Sicherheitsgründen, für den Fall, daß ich vor lauter Übermut im Zug einen Herzschlag bekomme. Ich bin ziemlich sicher, daß wir einer äußerst wichtigen Entdeckung über das Gehirn auf der Spur sind. Um es kurz und für Laien verständlich auszudrücken: die chemischen Vorgänge in den Hirnzellen, die zuständig sind für das Gedächtnis und alles, was wir von Kindheit an getan haben, sind wiederholbar, lassen sich, wenn ich so sagen darf, in diesen Zellen zurückschalten. Der Inhalt der Zellen wird durch unsere Erbmasse, das Vermächtnis der Eltern, Großeltern und älteren Ahnen bis zurück in Urzeiten bestimmt. Daß ich ein Genie bin und Du ein Faulpelz, hängt einzig von den Anweisungen ab, die uns von diesen Zellen übermittelt und dann durch verschiedene andere Zellen im ganzen Körper weitergegeben werden. Aber abgesehen von unseren besonderen Merkmalen speichern jene Zellen, mit denen ich mich beschäftigt habe – ich nenne sie das Erinnerungszentrum –, nicht allein unsere eigenen Erinnerungen, sondern auch Gewohnheiten früherer, ererbter Hirnstrukturen. Diese Gewohnheiten würden uns, wenn sie sich dem Bewußtsein erschlossen, befähigen, vergangenes Geschehen wahrzunehmen, nicht, weil irgendein Ahne eine bestimmte Szene erlebte, sondern weil durch ein Medium – in diesem Fall eine Droge – die ererbten älteren Erinnerungsmuster durchbrechen und unser Erleben bestimmen. Welche Folgerungen sich damit vom Gesichtspunkt des Historikers verbinden, geht mich nichts an, vom biologischen Gesichtspunkt aber ist die potentielle Nutzung des bisher nicht erschlossenen Vorfahren-Hirns ungeheuer interessant und öffnet ungeahnte Möglichkeiten.
Ich gebe zu, daß die Droge gefährlich ist und eine Überdosis tödlich wirken kann. Sollte sie gewissenlosen Menschen in die Hände fallen, so könnte sie in unserer ohnehin schon geplagten Welt noch mehr Unheil anrichten. Darum, mein Lieber, vernichte alles, was Du in Blaubarts Zimmer findest, falls mir etwas zustoßen sollte. Meine Mitarbeiter hier in London, die von der Tragweite meiner Entdeckung nichts wissen, haben entsprechende Anweisungen und sind unbedingt zuverlässig. Sollte ich Dich nicht wiedersehen, so vergiß das Ganze. Wenn wir uns heute abend wie verabredet treffen und zusammen hinausgehen und vielleicht sogar, wie ich hoffe, einen Trip machen, so möchte ich mir die schöne Isolda ansehen, die nach den Dokumenten (oben in meinem Koffer) zu urteilen, ihren Geliebten verlor, wie Du mir erzähltest, und nun dringend Trost braucht. Bei dieser Gelegenheit werden wir sehen, ob Roger Kylmerth ihr Trost spenden kann. Mir bleibt keine Zeit, noch mehr zu schreiben, der Zug fährt in Exeter ein. Auf bald in dieser Welt, in der anderen oder im künftigen Leben! Magnus.«
Wenn wir am Freitag nicht segeln gegangen wären, hätte ich die telefonische Nachricht, daß er den früheren Zug nehmen wollte, rechtzeitig gefunden … Wenn ich vom Bahnhof St. Austeil nicht nach Haus, sondern direkt zum Steinbruch gefahren wäre … Zu viele ›Wenn‹, und keins davon konnte jetzt noch helfen. Auch dieser Brief hätte mich eigentlich schon am Samstagmorgen anstatt erst heute, am Montag, erreichen müssen. Aber das hätte ebenfalls nichts genützt, denn Magnus hatte nicht geschrieben, was er vorhatte. Vielleicht hatte er, als er ihn einsteckte, noch nicht einmal einen bestimmten Entschluß gefaßt. Der Brief war eine Vorsichtsmaßnahme, wie er sagte, falls irgend etwas schiefging. Ich las ihn noch zweimal durch, dann hielt ich das Feuerzeug daran und sah zu, wie er verbrannte.
Ich ging ins Kellergeschoß und durch die alte Küche ins Labor. Seit Mittwoch früh nach meiner Rückkehr vom Steinbruch, als Bill herunterkam und ich in der Küche Tee machte, hatte ich es nicht mehr betreten. Die Gläser und Flaschen, der Affenkopf, die Katzenembryos und die Pilzgewächse hatten seit dem ersten Experiment ihr bedrohliches Aussehen eingebüßt. Jetzt, da ihr Meister für immer fort war, schienen sie mir nutzlos wie die Requisiten eines Taschenspielers. Kein Zauberstab würde sie wieder zum Leben erwecken, keine kundige Hand die Säfte aus ihnen pressen, die Knochen sammeln und sie im brodelnden Kessel zur Gärung bringen.
Ich nahm die Gläser mit den verschiedenen Flüssigkeiten herunter und entleerte sie in den Ausguß. Dann spülte ich sie aus und stellte sie
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