Ein Tropfen Zeit
bei seinen Eltern in Kilmarth zu wohnen. Das Brausen des Zuges in der Dunkelheit des Tunnels und plötzlich das sehnlich erwartete Eintauchen ins Licht, mit grünen Feldern zu beiden Seiten. Magnus mußte die Fahrt als Junge in allen Ferien gemacht haben. Jetzt hatte er am Eingang des Tunnels den Tod gefunden.
Niemand würde es begreifen können. Weder die Polizei noch seine vielen Bekannten, niemand außer mir. Man würde mich fragen, wie ein Mann von seiner Intelligenz in der Dämmerung eines Sommerabends so dicht an den Gleisen entlanggehen konnte, und ich mußte behaupten, es nicht zu wissen. Aber ich wußte es. Magnus bewegte sich in einer Zeit, da es noch keine Eisenbahn gab, in einer Zeit, da unebenes Weideland und Gestrüpp den Hang bedeckten. In jener anderen Welt gab es noch keinen dunklen Tunnelschlund unter dem Hügel, keine Schienen, keine Straßen, nur das kahle Grasland, und vielleicht einen Mann auf einem Pony – der Führer von Magnus.
»Ja«, sagte ich.
Der Inspektor hatte mich gerade gefragt, ob Professor Lane Verwandte habe.
»Tut mir leid«, sagte ich, »ich habe eben nicht zugehört. Nein, Kapitän Lane und seine Frau sind schon vor mehreren Jahren gestorben, und sie hatten sonst keine Kinder. Er hat mir gegenüber auch nie andere Verwandte erwähnt.«
Er hatte sicher einen Rechtsanwalt, der seine Interessen vertrat, und eine Bank, die seine Finanzen regelte; jetzt erst fiel mir ein, daß ich nicht einmal den Namen seiner Sekretärin kannte. Unsere Beziehung, so eng und beständig sie war, blieb von Alltagssorgen und praktischen Fragen unberührt. Gewiß gab es jemand anders, der über all das Bescheid wußte.
Der Wachtmeister kam herein und teilte dem Inspektor mit, daß der zweite Streifenwagen und der Unfallwagen angekommen seien. Als wir zum Leichenschauhaus zurückgingen, murmelte der Wachtmeister dem Inspektor etwas zu, das ich nicht verstand, und dieser wandte sich an mich.
»Doktor Powell aus Fowey war zufällig im Polizeirevier von Tywardreath, als die Meldung von unserer Streife eintraf«, sagte er, »und er erklärte sich bereit, eine vorläufige Untersuchung der Leiche vorzunehmen. Der Pathologe des Untersuchungsrichters wird die eigentliche Autopsie durchführen.«
»Ja«, sagte ich. »Autopsie … Ermittlung … die üblichen Formalitäten.«
Der erste Mensch, den ich im Hause sah, war der Arzt, dem ich vor zehn Tagen an der Ausweichstelle begegnet war und der miterlebt hatte, wie ich von jenem Schwindelanfall zu mir kam. Ich bemerkte an seinem Blick, daß er mich sofort erkannte, aber er verriet nichts, als der Inspektor uns vorstellte.
»Es tut mir leid«, sagte er und fügte dann unvermittelt hinzu: »Wenn Sie bisher noch niemanden gesehen haben, der bei einem Unfall schlimm zugerichtet wurde – und dann noch ein Freund –, so muß ich Sie darauf vorbereiten, daß es kein schöner Anblick ist. Dieser Mann hat eine große, klaffende Wunde am Kopf.«
Er führte mich vor die Tragbahre, die man auf einem langen Tisch abgesetzt hatte. Es war Magnus, aber er sah verändert aus – irgendwie kleiner. Über dem rechten Auge befand sich eine tiefe, blutverklebte Höhlung. Das zerrissene Jackett war mit Blut bespritzt, und ein Hosenbein hing in Fetzen herab.
»Ja«, sagte ich, »das ist Professor Lane.«
Ich wandte mich ab, denn Magnus war nicht wirklich dort. Er ging immer noch über die Felder oberhalb des Treesmill-Tales und blickte sich erstaunt in einer anderen, unbekannten Welt um.
»Wenn Ihnen das ein Trost ist«, meinte der Arzt, »so kann er, nachdem er einen solchen Schlag erhalten hatte, nicht mehr lange gelebt haben. Gott weiß, wie er es fertigbrachte, noch ein paar Meter weit bis zur Hütte zu kriechen – er war aber gewiß nicht bei Bewußtsein, denn wenige Augenblicke später ist er gestorben.«
Das war durchaus kein Trost, aber ich bedankte mich trotzdem.
»Sie meinen also, er hat nicht dort gelegen und gewartet, daß jemand kam?«
»Nein, bestimmt nicht. Der Inspektor wird Ihnen gewiß alle näheren Einzelheiten mitteilen, sobald wir wissen, wie schwer seine Verletzungen waren.«
Am Ende des Tisches lag ein Spazierstock. Der Wachtmeister zeigte ihn dem Inspektor. »Den Stock fand man weiter unten auf der Böschung unweit der Hütte«, sagte er.
Der Inspektor sah mich fragend an und ich nickte. »Ja, dies ist einer von den vielen Spazierstöcken aus seinem Besitz. Sein Vater sammelte sie; in seiner Londoner Wohnung stand ungefähr ein
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