Ein tüchtiges Mädchen
las sie seine alten Briefe mit neuen Augen. Diese Liebeserklärungen waren allzuleicht aus der Feder geflossen. Sie waren ebenso hohl wie der letzte Brief. Als einzige Antwort schickte Gerd den Ring zurück. Und als dann noch ein Brief eintraf, verweigerte sie die Annahme. Sie war endgültig fertig mit dieser Episode ihres Lebens. Bitter enttäuscht und um eine teuer erkaufte Erfahrung reicher, war sie abgereist, froh, die Stellung bei Myrseth und Sohn erhalten zu haben.
Myrseth! Der schlief jetzt friedlich in seinem Krankenhausbett, sicher, daß Gerd die Aufgabe lösen würde, die sie übernommen hatte. Jawohl, beruhigt und froh, weil der wichtigste Vertrag, den er jemals in Händen gehalten hatte, morgen früh um 9 Uhr unterzeichnet werden sollte.
Aber morgen um 9 Uhr würde Gerd im günstigsten Falle unterwegs nach Kopenhagen sein, und Direktor Busch würde vergebens warten. Wann ging wohl sein Flugzeug nach Amerika? Ach, sicher sehr zeitig am Vormittag.
Plötzlich setzte sich Gerd mit einem Ruck im Bett auf. Mit zitternden Händen knipste sie die Nachttischlampe an.
Rasch war sie aus dem Bett und holte aus der Aktenmappe den Flugplan.
Wenn nun Direktor Busch mit der SAS flog? Sie besaß den Plan für das ganze Liniennetz der SAS. Gesetzt den Fall, er flog über Kopenhagen?
Sie blätterte in fieberhafter Eile. Ach – hier war es! Hamburg-New York. Abflug täglich 13.10 – ja, tatsächlich! Ankunft Kopenhagen 14.05, Weiterflug 15.20 Uhr. Eine Stunde Aufenthalt! Ach, man konnte einen ganzen Haufen von Verträgen zwischen 14.05 Uhr und 15.20 Uhr unterschreiben!
Wenn er doch nur mit SAS flöge! Wenn nur nicht Lufthansa oder eine holländische oder britische Linie eine direkte Route hatten!
Das Herz schlug ihr bis zum Halse hinauf. Sie mußte telegrafieren. Busch mußte das Telegramm spätestens um 9 Uhr haben. Sie mußte eine Zusammenkunft in Kastrup verabreden. Wie sah es doch nur dort aus? Sie schloß die Augen und versuchte, sich das Bild des Flughafens in die Erinnerung zurückzurufen: die Ankunftshalle, die Abflughalle, die Transithalle – die natürlich, ganz klar! In die Transithalle kamen sie alle, auch er als Fluggast Deutschland-Amerika, sie als Passagier Norwegen-Deutschland.
Sie mußte ihn in der Transithalle treffen. Und sie mußte auch den Treffpunkt vorschlagen, denn es gab keine Möglichkeit, auf eine Antwort zu warten.
Gerd warf sich ihren Morgenrock über und lief im Zimmer auf und ab. Die Transithalle war sicher groß, und sie war nie dort gewesen. In einer großen Halle mit lebhaftem Verkehr konnte man sich so leicht verfehlen.
Gerd blieb plötzlich stehen und lauschte! Die Tür des Nebenzimmers wurde leise geöffnet. Leise Schritte den Gang entlang -
Das war doch Helge Jervens Zimmer!
Sie lauschte erneut, verhielt sich ganz still. Dann mußte sie lächeln. Das war nun wirklich das erstemal in ihrem Leben, daß sie mitten in der Nacht in einem Hotelzimmer stand und auf die Schritte eines Mannes lauschte, der vermutlich auf die Toilette ging.
Die Schritte kamen zurück. Da öffnete Gerd ihre Tür einen Spalt. Ja, jetzt sah sie ihn, etwas schläfrig, mit zerzaustem Haar und im Pyjama.
Sie stand ihm gegenüber, mit großen, überwachen, brennenden Augen.
„Hören Sie mal“, flüsterte sie. „Sie kennen doch Kastrup. Ist da ein Andenkenkiosk in der Transithalle?“
„Was für ein Ding?“
„Nun denken Sie bitte mal nach: Befindet sich ein Andenkenladen in der Transithalle?“
„Da sind, wenn ich nicht irre, zwei.“
„Gibt es da nichts, was nur in einer Ausgabe da ist?“
„Doch. Die Post, zum Beispiel!“
„In der Transithalle?“
„Ja, gewiß.“
„Danke. Das ist fein!“
Die Tür schloß sich hinter Gerd.
Helge Jerven starrte die geschlossene Tür mit offenem Mund an.
Es war nicht das erstemal, daß er ein hübsches Mädchen in einem Hotelgang traf. Es war auch nicht das erstemal, daß ein Mädchen ihn abfing und mit ihm redete. Ein Mädchen im Morgenrock sah er auch nicht zum erstenmal. Aber es war das erstemal, daß er mitten in der Nacht von einem hübschen Mädchen im Morgenrock angehalten worden war, weil sie Auskunft über Andenkenläden in einer Transithalle haben wollte.
Kopfschüttelnd ging Helge Jerven aufsein Zimmer.
Indessen saß im Nebenzimmer Gerd an dem kleinen Schreibtisch, bemüht, eine Mitteilung folgenden Inhalts zu übersetzen und zu kürzen: „Sollten Sie über Kopenhagen fliegen, treffen Sie mich in der Transithalle vor dem Postamt.
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