Ein unauffälliger Mann - Chadwick, C: Ein unauffälliger Mann - It's All Right Now
vermutlich nicht diejenige gewesen sein, die noch vor ein paar Augenblicken gefragt hatte, warum die andere mich denn verdammt noch mal eingeladen hatte, also ehrlich? Sie setzten sich auf die Lehnen eines Sofas unter dem Fenster, so daß, da ich die Sonne in den Augen hatte, der Prozeß der Unterscheidung nur schleppend begann beziehungsweise punktuell. Ich machte eben ein Geräusch tief in meiner Kehle, das ich mit einem Schluck von meinem lauwarmen Kaffee beendete. Hier wurde nicht in der Küche herumgehangen und gewartet, bis das Wasser im Kessel kochte.
»Ich bin Annelise, das ist Michelle«, sagte diejenige, die mich hereingebeten hatte, öffnete dabei ihren Pferdeschwanz und schüttelte den Kopf, so daß ihr die Haare auf die Schultern fielen. Ursprünglich einmal dunkelblond, wirkte es jetzt im staubigen Sonnenlicht schlammbraun und ziemlich lange nicht mehr gewaschen.
»So ist’s besser«, seufzte sie. »Habe es gestern nacht ziemlich übertrieben.«
Da anscheinend eine Entschuldigung bevorstand, nutzte ich die Gelegenheit. »Ich hoffe doch, es war nur eine Party. Ich habe mir
schon Sorgen gemacht, ob da nicht irgendwas ganz Schreckliches passiert. Bin froh, daß ihr es gut überstanden habt, das bin ich wirklich.«
Michelle starrte mich an. Nun war absolut klar, wer beim ersten Mal zur Tür gekommen war und wer was in der Küche gesagt hatte. Die Schwarzhaarige natürlich. Sie hob ein Bein und zeigte mit dem Fuß in meine Richtung. Sie trug rote Socken und keine Schuhe. Wenn ich die Hand ausgestreckt hätte, dann hätte ich sie in die Zehen kneifen können.
»Ein Premierenabend«, sagte Annelise. »Und ich habe einen solchen Patzer gemacht. O Gott!«
Michelle schaute sie etwas verstimmt an und sagte: »Jetzt fang doch nicht schon wieder damit an, Annie. Ist sicher niemandem aufgefallen. Und es war ja auch nicht deine Schuld.«
»Natürlich war es meine Schuld.« Sie spannte die Lippen, so weit es ging, und stieß ein gequältes Zischen aus. »Michelle ist brillant. Sie hat ein Solo, und die Holländer wollen sie. Von mir lassen sie alle die Finger.«
Michelle sagte nichts, offensichtlich war sie ausschließlich damit beschäftigt, abzuschätzen, wie lange ich für meinen Kaffee brauchen würde. Ich war absolut entschlossen, sofort zum Thema der Party zurückzukehren; na ja, irgendwann einmal.
»Ich finde ganz unglaublich, was ihr tut«, sagte ich. »War es ein furchtbarer Patzer, oder sind Sie nur zu spät auf die Bühne gekommen oder hingefallen, oder haben Sie einen Sprung statt einer Drehung gemacht?«
Annelise warf ihren Kopf zurück, und ihre Haare bewegten sich kaum, so schwer waren sie vor Schmutz oder dem Zeug, das sie sich hineinsprühte, damit sie beim Tanzen die Form behielten. »War nur ein bißchen spät dran, bin aus der Reihe getanzt. Es war eigentlich nichts, außer daß es alles war.«
Sie schaute Michelle an, die nur »Ts« machte und weiter ihren Fuß inspizierte. »Schon gut, Annie, so was passiert schon mal.«
»O nein, das tut es nicht«, sagte Annelise. »Du würdest so was nie machen. Bei den Proben ist ja immer alles in Ordnung. Da patze ich nie.«
Eine längere Pause entstand, in der man am Kaffee nippte. Annelises Stimme hing noch in der Luft, flehend und unbeantwortet, auf jeden Fall von Michelle, die unbekümmert weiter die Stirn runzelte. Wenn ich nicht dagewesen wäre, hätten sie sich jetzt sicher gestritten. Keine Frage, wer da als Sieger hervorgegangen wäre.
»Also, wenn ich das sagen darf«, bemerkte ich, »mir ging das früher genauso. Ich war im Finanzwesen, in dieser Richtung. Man glaubt, die Zahlen sind hundertprozentig richtig, und dann merkt man, man hat eine Null vergessen, oder jemand anders hat es, und man gibt sich selber die Schuld oder auch nicht, wenn man’s irgendwie vermeiden kann, und dann arbeitet man doppelt so effizient, weil man Angst hat, daß man ertappt wird, und dabei vergißt man, wie unwichtig es ist oder war oder sein sollte, und man fragt sich, ob man sich selber trauen kann ... Ich kenne also das Gefühl.«
Das klang noch dümmlicher, als es sich liest, doch immerhin schaffte ich es damit, die beiden wieder zusammenzubringen, denn sie wechselten Blicke und schafften es beinahe, überhaupt nicht zu lachen, und ihre Füße wippten nun im Gleichklang.
»Ist natürlich überhaupt nicht dasselbe«, fuhr ich fort. »Ich verstehe, daß die Künste etwas wirklich ganz anderes sind, eine ganz andere Liga, der Schwierigkeiten, des
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