Ein unbeschreibliches Gefuehl
dieses Modell dauerhaft funktioniert – getreu der Theorie des Schweizer Literaturwissenschaftlers Peter von Matt, wonach Treulosigkeit in der Liebe nur in Mord, Selbstmord oder Wahnsinn enden kann. Julies Lösung ist der durch die Kindesrettung moralisch legitimierte Selbstmord.
Für heutige Leser allerdings wirft das Modell doch Fragen auf. Den einstigen Liebhaber zum Seelenfreund zu machen und den Sex auf den Ehemann zu beschränken, das bedeutet eine Zweiteilung von Körper (Julie würde sagen: »passions – Leidenschaften«) und Seele (»Gefühl«). Sexualität ist aber nichts, was isoliert gesehen werden kann, sie ist eingebunden in das aus unzähligen Fäden geknüpfte Geflecht einer Beziehung. Dem einen Mann sein Herz zu schenken und dem anderen den Körper und dazu vielleicht noch Achtung, das hieße, die Sexualität von den Gefühlen zu isolieren. Es ist zwar nicht per se unmoralisch. Es kann sich aber zumindest dann nachteilig auswirken, wenn man sich nicht im Klaren über das ist, was man tut – wenn man sich also selbst betrügt.
Auch Julies Ehemann wurde nach heutigen Maßstäben um etwas betrogen. Denn selbst wenn kein Partner für den anderen alle Rollen immer und gleichermaßen erfüllen kann, so wäre es doch zumindest wünschenswert, wenn der eigene Mann, die eigene Frau einem nicht nur körperlich, sondern immer wieder auch seelisch unter allen Menschen der nächste wäre. Gegen einen idealisierten Seelenfreund aber hat ein realer Partner im Alltag wenig Chancen. Das platonische Liebesideal funktioniert nach dem Hase-und-Igel-Prinzip: Der Seelenfreund ist immer schon vorher da.
Andererseits: Die Gedanken sind bekanntlich frei. Und wo es damals einer Julie womöglich doch nicht gelang, im Bett ihren Saint-Preux aus dem Kopf zu verbannen, holt sich heute mancher vielleicht einen Filmstar auf die Leinwand seines Kopfkinos. Wobei im konkreten Fall dann erst noch geklärt werden müsste, ob es wirklich die erotische Ausstrahlung des Stars oder doch eher seine Unerreichbarkeit (und damit Gefahrlosigkeit) ist, die ihn attraktiv macht. Soll heißen: Verallgemeinerungen sind in diesen Dingen einfach fehl am Platz. Es kann nur immer jeder und jede Liebende sich selbst fragen, ob das, was er oder sie da tut, in Übereinstimmung mit sich selbst geschieht oder aber den Selbstbetrug befördert. Und von dieser Frage aus wäre es dann wiederum gar nicht mehr so weit bis zu Rousseaus Forderung nach einer unverstellten Natürlichkeit.
Der Begriff der Empfindsamkeit stellt übrigens eine Übersetzung des englischen »sentimental« dar. Er stammt von Gotthold Ephraim Lessing, dem Zeitgenossen Rousseaus und berühmten Verfasser des Dramas »Nathan der Weise« (1779). In diesem Drama geht es bekanntlich um die religiöse Toleranz, die aus der Einsicht erwächst, dass jede Religion ihren Wert durch das Handeln der Menschen erweisen muss, die sich zu ihr bekennen. Wahrheit ist etwas, das sich in der Ethik, und das heißt letztlich: praktisch und konkret, zeigen muss, so lautet hier die Schlussfolgerung. Lessing, der nach Jahren des Wartens seine große Liebe Eva König heiraten konnte und sie bald darauf durch das Kindbettfieber wieder verlor, hat in seinen Dramen Frauengestalten wie Emilia Galotti geschaffen, die die praktischen Konsequenzen ihrer Ideale nicht fürchten: Emilia Galottis Liebesheirat mit einem Grafen wird von einem Prinzen verhindert, der Emilia nach alter höfischer Sitte als Mätresse für sich begehrt. Nachdem der Prinz Emilia entführen ließ, wobei ihr Bräutigam getötet wurde, überzeugt sie ihren Vater, sie zu erstechen, um nicht der Gefahr zu erliegen, von ihrem Entführer doch noch verführt zu werden: »Gewalt! Gewalt! Wer kann der Gewalt nicht trotzen? Was Gewalt heißt, ist nichts: Verführung ist die wahre Gewalt. Ich habe Blut, mein Vater, so jugendliches, so warmes Blut als eine. Auch meine Sinne sind Sinne.« Emilia will ihren Gefühlen treu bleiben, gegen die Macht der Sinne.
Wesentlich pragmatischer und im Wortsinn unsentimentaler ist ein Zeitgenosse Lessings mit dem seinerzeit so modischen Zwiespalt zwischen Gefühl und Sinnen umgegangen. Gegen die empfindsame Tragik setzte er die Vielfalt der Rollen, und das ist für heute höchst bedenkenswert. Der Name dieses Mannes: Georg Christoph Lichtenberg.
Nicht nur eines, sondern vieles sein
G eorg Christoph Lichtenberg hatte allen Grund, in Sachen Liebe pragmatisch zu sein: Seit Kindheitstagen litt er an einer
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