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Ein unbeschreibliches Gefuehl

Ein unbeschreibliches Gefuehl

Titel: Ein unbeschreibliches Gefuehl Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Christiane Schlueter
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verabsolutieren, heißt das, und wenn sie durch die Unwiderstehlichkeit der sexuellen Begierde verstärkt werden, so sollte man klaren Kopf bewahren und eines vom anderen unterscheiden. Auf Deutsch: Es gibt mehr als einen Menschen, mit dem man glücklich werden kann. Werther hätte nicht sterben müssen.
    Auch Lichtenberg ist nicht an seinem großen Liebeskummer gestorben. Nachdem er die Stechardin betrauert hatte, engagierte er eine – wieder sehr junge – Haushälterin namens Margarete Elisabeth Kellner, zeugte mit ihr acht Kinder und heiratete sie schließlich, um sie materiell abzusichern. Wie eine Liebe zwar nicht tragisch, aber dafür im Alltag lebbar wird, hatte er schon 1777 in einem zweiten Brief an die Stechardin beschrieben: »Ich habe sehr hohe Begriffe von der Größe und Würde des Menschen. Einem Triebe folgen, ohne den die Welt nicht bestehen könnte, die Person lieben, die mich zum einzigen Gesellschafter ausersehen hat, zumal da nach unsern Sitten diese Person sich durch tausend andere Dinge an unser Herz fest hängt, und unter den mannichfaltigen Relationen, von Ratgeber, Freund, Handlungskompagnon, Bettkamerade, Spielsache, lustiger Bruder (Schwester klingt nicht) auf uns wirkt, das halte ich sicher für keine Schwachheit, sondern für klare, reine Schuldigkeit, und ich glaube auch, es steht nicht bei uns, ein solches Geschöpf nicht zu lieben.«
    Wie hatte Voltaire gleich geschrieben? »Freundschaft und Wertschätzung eilen zu Hilfe, und die Gaben des Körpers und des Geistes wirken ebenfalls verbindend.« Lichtenberg, im Spotten Voltaires Bruder im Geiste, nennt neben dem Freundsein viele weitere Rollen, in denen Liebende einander bereichern können: Ratgeber, Gefährte bei Unternehmungen, Liebhaber(in) und »lustiger Bruder (oder Schwester)« – mit Letzterem ist jemand gemeint, der den anderen zum Lachen bringt. Eine Beziehung lebt von der Rollenvielfalt, die in ihr existiert, so würden es heutige Psychologen ausdrücken und Lichtenberg damit voll zustimmen. Je größer das Handlungsrepertoire, das Liebende im Umgang miteinander haben, desto spannender und tragfähiger ist die Beziehung. Dann kann der eine für den anderen Verführer sein und Beschützer, Kumpel und Gesprächspartner, Geschwister und Freund – die Komplementärrollen immer mitgedacht. Und gut ist es überdies, wenn die Rollen getauscht werden können. Es gibt nichts Besseres, um eine Liebe lebendig zu erhalten.
    1776, zwei Jahre nach Erscheinen des »Werther« und ein Jahr, bevor Lichtenberg seine Briefe über die Liebe an die Stechardin schrieb, hatte übrigens Goethe an seine glühend geliebte Frau von Stein ebenfalls über eine Art der Rollenvielfalt geschrieben. Er stellte sie sich karmisch vor und begründete mit ihr die tiefempfundene Nähe zu der Geliebten: »Ach, du warst in abgelebten Zeiten meine Schwester oder meine Frau.« Der Psychoanalytiker Kurt Eissler hat bekanntlich die These vertreten, dass Goethe einen Schwesterkomplex gehabt und in jeder verehrten Frau seine Schwester Cornelia geliebt habe, was natürlich mit einem Tabu belegt und somit notgedrungen platonisch gewesen sei – bis der Dichter sich 1786 auf seiner Italienreise durch erste sexuelle Erlebnisse davon befreit habe. Nach der Rückkehr aus Italien war Goethe schließlich 28 Jahre lang mit Christiane Vulpius zusammen, einer eher ungebildeten, aber sehr sinnlichen Frau. Daneben verliebte er sich weiter in gebildete Damen aus der guten Gesellschaft. Es sieht so aus, als habe der »Olympier« die Rollen doch lieber auf mehrere Frauen verteilt.
    Auch von Lichtenbergs Liebesleben hat in der allgemeinen Wahrnehmung eher das Problematische überlebt: dass er, nach Alter, Status und somit Macht, höchst unausgewogene Beziehungen hatte. Doch wie der Verfasser der »Sudelbücher« die Liebe beschrieben hat, das lohnt unbedingt festgehalten zu werden. Zwei Punkte sind es: erstens, dass man an einer unglücklichen Liebe nicht sterben muss, weil einfach kein Mensch so unwiderstehlich ist, dass man die Gefühle nicht auch wieder von ihm abziehen könnte. Mit dieser Überlegung hat Lichtenberg alltagstauglich gemacht, was hundert Jahre vor ihm Spinoza gefordert hatte: dass man die Gefühle von Schwierigem ab- und Angenehmem zuwenden solle.
    Und zweitens, dass in einer Liebesbeziehung Platz sei für viele verschiedene Arten des Umgangs miteinander, also für Rollen, die die Beteiligten jeweils einnehmen: »Ratgeber, Freund, Bettkamerad«, nannte es

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