Ein unbeschreibliches Gefuehl
nach verbildenden, das Individuum zerstörenden Zivilisation – gehörte seine ganze Begeisterung.
Ein Jahr zuvor hatte Rousseau seinen Briefroman »Julie oder Die neue Héloïse« veröffentlicht. Darin entfaltet er sein Programm der empfindsamen Liebe. Der Name Héloïse verweist auf Abaelard und Héloïse, die tragischen Liebenden des Mittelalters. Bei Rousseau treten der bürgerliche Hauslehrer Saint-Preux und seine Schülerin, die junge adlige Schweizerin Julie d’Étanges, an die Stelle des berühmten Paars. Die beiden verlieben sich ineinander, Julie schläft nach vielen Zweifeln mit Saint-Preux und wird schwanger. Doch während er glücklich ist, empfindet sie Schuldgefühle. Hier beginnt bereits die Spaltung in Rousseaus Liebesbegriff: Sinnliche Leidenschaft und gefühlsmäßige Zuneigung werden unterschiedlich hoch bewertet. Julie erleidet eine Fehlgeburt, die Liebenden müssen sich trennen, und Saint-Preux geht nach Paris. Die beiden schreiben einander, und in ihren Briefen überzeugt Julie ihren Geliebten nun davon, dass die wahre Glückseligkeit in der Vereinigung der Herzen liege, die durch keine Entfernung behindert werden könne. Die leidenschaftliche Liebe hingegen sei nur eine Illusion, weil sie auf Vergänglichem wie Jugend und Schönheit gründe. Jetzt ist die Spaltung zwischen sinnlicher Leidenschaft und Seelenfreundschaft perfekt.
Doch die Tragödie dieser Beziehung geht noch weiter: Julies Mutter erfährt von dem Briefwechsel. Als sie stirbt, fühlt Julie sich so schuldig, dass sie den von der Familie gewählten Mann heiratet. Von einer Weltumseglung heimgekehrt, findet Saint-Preux seine einstige Geliebte als Ehefrau und Mutter vor. Er muss sich nun endgültig mit der Rolle des Seelenfreundes begnügen, damit diese Liebe nicht die allgemeine Ordnung gefährdet. Zuletzt stürzt Julie sich ins Wasser, um eines ihrer Kinder vor dem Ertrinken zu retten, und stirbt kurz darauf an den Folgen ihrer Rettungstat.
»Julie oder Die neue Héloïse« war ein solcher Erfolg, dass die Buchhändler ihre Exemplare tage- und sogar stundenweise verliehen, da man mit dem Drucken nicht nachkam. Die vermeintliche Authentizität des Briefromans war so glaubwürdig, dass die Leser Rousseau brieflich bestürmten, ihnen doch mehr über das Paar mitzuteilen. Dreizehn Jahre später, 1774, erschien dann in Deutschland »Die Leiden des jungen Werthers« von Goethe. Der hatte Rousseaus Buch gelesen und sich sehr wohl mit Saint-Preux identifiziert. Auch dieser zweite so authentisch wirkende Briefroman schlug ein wie eine Bombe: Die Menschen kleideten sich wie der unglücklich liebende Werther, und manche brachten sich nach seinem Vorbild um.
Rousseaus Roman stellt zunächst ein flammendes Plädoyer für die Liebesehe dar, für das natürliche Empfinden und gegen die absurd gewordenen Anforderungen der damaligen Ständegesellschaft. Ideengeschichtlich gehört er in die Epoche der Empfindsamkeit. Anders als im 17. Jahrhundert war dem aufgeklärten Denken im 18. Jahrhundert eine gehörige Portion Gefühl beigemischt. Das liest sich in einem Brief von Saint-Preux an Julie freilich sehr durchgeistigt: »Urteile besser, du reine himmlische Schönheit, über deiner Macht Beschaffenheit! O gewiss! Wenn ich die Schönheiten deiner Person anbete, tue ich es nicht hauptsächlich wegen des Abbilds jener unbefleckten Seele, die sie belebt und deren göttliches Zeichen alle deine Züge tragen?« Sokrates und mit ihm Platon hätten sich gefreut! Endlich setzte jemand – und sei es auch nur eine literarische Figur – Diotimas Konzept der Liebe in die Tat um, indem er hinter der sichtbaren Schönheit der Geliebten die ewige Schönheit des immateriellen Ideals wahrnahm!
Mit diesem platonisch zu liebenden Ideal muss sich Saint-Preux dann ja auch zufriedengeben. Rousseaus Heldin versucht, den einstigen Geliebten als Seelenfreund zu behalten und gleichzeitig eine gute Ehefrau zu sein, indem sie das Gefühl und die seelische Verbundenheit von den sinnlichen Leidenschaften, der »grande passion«, trennt. In der damaligen Zeit, in der andere Konventionen galten und Frauen wirtschaftlich viel abhängiger waren als heute, stellte dies vielleicht sogar den bestmöglichen Weg dar, in Liebeskonflikten mit den eigenen Gefühlen irgendwie umzugehen, ohne von der Gesellschaft geächtet zu werden. Für zeitgenössische Leser blieb die Moral ja bestens gewahrt. Und zum Glück erspart Julies Tod allen Beteiligten eine letzte Probe darauf, ob
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