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Ein unbeschreibliches Gefuehl

Ein unbeschreibliches Gefuehl

Titel: Ein unbeschreibliches Gefuehl Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Christiane Schlueter
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Voltaire keinen vergleichbaren Trost bereit. Wenn die äußere Attraktivität fehlt, wenn Falten und zahnlose Münder zurückschrecken lassen, dann wird aus der Geliebten die Krankenschwester, sagt er. »Dann gilt es zu ertragen, was man einst geliebt hat.«
    Voltaire ist 83-jährig gestorben. Seinen Tod hatte er, ein Hypochonder, schon Jahrzehnte zuvor immer wieder angekündigt. Man darf vermuten, dass er zuletzt nicht mehr viele Zähne besaß und ihm unter der Perücke längst das Haar ausgegangen war. Madame Denis, seine Nichte und Geliebte, lebte bis zuletzt mit ihm in Ferney bei Genf. Dort war Voltaire mit 64 Jahren als Lehnsherr sesshaft geworden, hatte »seinen Garten bestellt« und sich weiter mit scharfer Zunge und spitzer Feder an den Kämpfen der Welt beteiligt – zwischen Verzweiflung und heiterer Resignation schwankend, was die Möglichkeiten menschlichen Erkennens anging. »Ich bin sehr spät glücklich geworden in dieser Welt«, hat er einmal von sich gesagt. »Aber endlich bin ich es geworden; nur wenige werden das von sich sagen können.« Auf letzte Wahrheiten zu verzichten und dafür in heiterer Skepsis dem Vergnügen den Vorzug zu geben, das kann eine lohnende Haltung sein.

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    W as soll man von jemandem halten, der ein Buch über die natürliche Erziehung schreibt, seine eigenen fünf Kinder aber ins Findelhaus steckt, weil sie Lärm und Kosten verursachen? Und doch: Jean-Jacques Rousseau, von dem hier die Rede ist, bereitete im 18. Jahrhundert dem romantischen Protest gegen die Gefühlskälte der Aufklärung den Weg. Allerdings veranstaltete der französisch-schweizerische Philosoph in den eigenen Gefühlsdingen einen ziemlichen Wirrwarr, was vielleicht auch in seiner Kindheit begründet liegt. Die Mutter starb bei der Geburt, und die frühen Jahre mit dem liebevollen Vater endeten abrupt, als dieser wegen einer Schlägerei aus der Heimatstadt Genf fliehen musste. Rousseau kam zu einer Pflegefamilie. Die dort erhaltenen Schläge prägten seine Sexualität. In seinen »Bekenntnissen« (1782) beschreibt er seine Lieblingsphantasie: »Vor den Füßen einer ernsten Herrin zu liegen, ihren Befehlen zu folgen, sie um Vergebung zu bitten, das war mein größtes Vergnügen.« Als junger Mann entdeckte er in Turin seine anal-exhibitionistischen Neigungen: »Mein albernes Vergnügen, ihn vor ihren Augen zu wölben, war unendlich.«
    Einige Zeit lebte Rousseau mit der zwölf Jahre älteren Françoise-Louise de Warens zusammen. Sie bekehrte ihn zum Katholizismus und machte ihn zu ihrem Geliebten. Daneben hatte sie jedoch weitere Affären. Mit Ende zwanzig trennte Rousseau sich endgültig von »Maman«, wie er sie nannte. Kurz vor seinem Tod blickte er in den »Träumereien eines einsamen Spaziergängers« auf diese Beziehung zurück: »Ach, wäre ich ihrem Herzen genug gewesen, wie sie es dem meinigen war! … Es gibt keinen Tag, an welchem ich mich nicht mit Freude und Rührung dieser einzigen und kurzen Zeit meines Lebens erinnere, in der ich ganz ohne Beimischung und ohne Hindernis ich selbst war und von der ich mit Wahrheit sagen kann, gelebt zu haben.« Authentisch zu sein, »natürlich«, wie er es sagen würde, war Rousseaus großes Bedürfnis. In seinem Bemühen, dieses Bedürfnis zu befriedigen und philosophisch zu begründen, scheint er freilich von seltener Egozentrik gewesen zu sein.
    1745 begann er, nach einigen Erlebnissen mit venezianischen Prostituierten, eine Beziehung mit Thérèse Levasseur, die er als Stubenmädchen in einem Hotel in Paris kennengelernt hatte. Rousseau brachte ihr das Schreiben bei und heiratete sie schließlich – aber erst nach 23 Jahren! Dieser Beziehung entstammten die fünf Kinder, die ins Findelhaus kamen. Das war damals in Frankreich eine weitverbreitete Praxis, auch wenn dieser Umstand natürlich nichts an Rousseaus Tat ändert. Allein zwischen 1750 und 1760 wurden nur in Paris über 67000 Kinder ausgesetzt. Gegenüber Voltaire verteidigte sich Rousseau denn auch: Er habe seinerzeit schlecht verdient, Thérèse habe für seinen Lebensunterhalt mit aufkommen müssen und sich daher nicht mit Kindern belasten können. Wenige Jahre später wurde der Philosoph und Schriftsteller dann berühmt. Zu seinen bekanntesten Werken gehört der Erziehungsroman »Émile« (1762), in dem Rousseau sein Ideal des Lernens an der Natur, an der praktischen Erfahrung und durch soziale Beziehungen schildert. Denn der Natürlichkeit – im Gegensatz zur seiner Ansicht

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