Ein unbeschreibliches Gefuehl
Liebe bezeichnet werden, und akzeptiert das. Er sträubt sich nicht gegen die Tatsachen. Was nicht bedeutet, dass er gar keine Maßstäbe mehr gelten lassen will, im Gegenteil! Er fordert ja den Menschen auf, das ihm Gegebene zu würdigen und das Beste daraus zu machen – um des eigenen Vergnügens, des eigenen Genusses willen. Hier, an diesem Punkt, begegnet man in Voltaire dann doch auch einem »gemäßigten Moralisten«, wie die Berliner Kulturwissenschaftlerin Claudia Schmölders es ausgedrückt hat. Der geistreiche Libertin gibt letztlich schon eine Richtung vor, in die es gehen muss: in die der Selbst- oder Eigenliebe nämlich: »Insbesondere die Eigenliebe knüpft sämtliche Bande enger. Man berauscht sich an der eigenen Wahl, und viele Illusionen schmücken das Werk, zu dem die Natur den Grundstein legte.« Weil kein Liebender sich eingestehen wird, eine schlechte Wahl getroffen zu haben, wird jeder den Gegenstand seiner Liebe ordentlich überhöhen. Die Eigenliebe erweist sich also als Kitt, der die Beziehungen haltbarer macht.
Der Eigenliebe, französisch »amour-propre«, ist, nach der Gottesliebe (»amour de Dieu«), dann auch der übernächste Artikel in Voltaires Lexikon gewidmet – nicht aus dogmatischen, sondern aus alphabetischen Gründen. Da heißt es: »So wie man keine Schriften verfassen muss, um den Leuten zu beweisen, dass sie ein Gesicht besitzen, so ist es auch nicht nötig, ihnen zu beweisen, dass sie sich selbst lieben. Diese Eigenliebe ist das Mittel zu unserer Selbsterhaltung.« Voltaire greift hier einen Gedanken auf, der zu seiner Zeit besonders verbreitet war: dass nämlich das Streben nach dem Selbsterhalt die innerste Antriebskraft eines jeden Lebewesens und somit gut sei. Die Eigenliebe, so Voltaire, »ähnelt dem, was dem Erhalt der Gattung dient: Es ist notwendig, es ist uns teuer, es macht uns Vergnügen, und wir müssen es verborgen halten.« Klar ist, was er meint: den Sex natürlich. Sex und Eigenliebe sind für Voltaire verwandt – und darin ist ihm ja unbedingt zuzustimmen.
Als geistreicher Spötter kann der Philosoph dann nicht umhin, in seinem Lexikonartikel über die Liebe eine Geißel zu erwähnen, die zu seiner Zeit oft im Gefolge der Liebe war: die Syphilis. Kein Tier leide unter ihr, sagt er, und auch den Menschen habe sie nicht als Folge von Ausschweifungen befallen, sondern weil sie sich, von einigen Inseln der Unschuldigen ausgehend, in alle Welt verbreitet habe. Und dabei, so nimmt Voltaire augenzwinkernd auf die verhasste Leibnizsche Theorie von der bestmöglichen aller Welten Bezug, »heißt [es] ja, die Dinge seien so alle auf das Beste geordnet. Das möchte ich ja gern glauben, aber es ist doch hart.« Warum soll eine Welt, in der die Syphilis grassiert, die bestmögliche aller Welten sein? Wäre es nicht denkbar, dass Gott eine Welt ohne diese Krankheit erschaffen haben könnte?
Gebildete Plauderei ist Voltaires Spezialität. Und so garniert er seine Lexikonartikel gern mit historischen Seitenblicken. Im Artikel über die Liebe kommt er unter anderem auf die tragischen Liebenden des Mittelalters zu sprechen, Abaelard und Héloïse: »Die Philosophen der Erotik haben häufig gefragt, ob Héloïse Abaelard noch wirklich lieben konnte, nachdem er kastriert worden und ins Kloster gegangen war. Eine seiner guten Eigenschaften hatte der anderen zu großem Nachteil gereicht.« Doch gleich gibt Voltaire Entwarnung und spricht dabei den Mann direkt an: »Tröstet euch, Abaelard, ihr wurdet geliebt! Die Wurzel des gefällten Baumes bewahrt sich noch einen Rest an Saft, die Vorstellungskraft kommt dem Körper zur Hilfe.« Voltaire erweist sich hier als guter und moderner Psychologe: Der beste Sex findet im Kopf statt! »Man vergnügt sich auch noch bei Tisch, wenn man nicht mehr isst. Ist das Liebe? Ist das eine bloße Erinnerung? Ist es Freundschaft? Es ist ein Ich-weiß-nicht-was aus allem zusammen. Héloïse lebte mit euch von Illusionen und Beigaben. Manchmal streichelte sie euch, und das umso inniger, je mehr sie vorher dem Heiligen Geist geschworen hatte, euch nicht mehr zu lieben; es machte ihre Zärtlichkeiten kostbarer und schuldbeladener zugleich. Eine Frau kann sich nicht in einen Eunuchen verlieben. Aber sie kann ihre Leidenschaft für einen Geliebten bewahren, der Eunuch geworden ist, vorausgesetzt, er ist liebenswert geblieben.«
Leider: Für diejenigen, die nicht durch Verletzungen, sondern durch das Altern ihre Kraft verloren haben, hat
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