Ein unbezaehmbarer Verfuehrer
jedoch nicht nachteilig auf ihn auszuwirken schien.
„Blanchard." Alistair runzelte die Stirn. „War das nicht St. Aubyns Titel?"
Reynaud St. Aubyn war einer der Offiziere des 28. Infanterieregiments gewesen. Ein guter Mann, ein guter Offizier, der das Massaker von Spinner's Falls überlebt hatte, doch später im Lager der Indianer unter der Folter gestorben war. Alistair schauderte es, wenn er nur daran dachte. St. Aubyn war es, von dem er Helen erzählt hatte — der Mann, den sie ans Kreuz geschlagen und bei lebendigem Leib verbrannt hatten.
St. Aubyn war zudem Vales bester Freund gewesen.
Vale nickte. „Den Titel trägt jetzt ein entfernter Cousin, verwitwet, soweit ich weiß. Seine Nichte übernimmt bei allen Empfängen und Feiern die Rolle der Gastgeberin."
„Wann?"
„Morgen."
Alistair starrte in sein leeres Glas. Morgen würde auch Etiennes Schiff in London vor Anker gehen, doch nur für wenige Stunden. Würde die knappe Zeit reichen, sowohl zum Lunch des Earls zu gehen als auch Etienne zu treffen? Wenn er zu Blanchards Empfang ginge, liefe er Gefahr, das Schiff zu verpassen. Doch was wog schwerer: die Kinder oder neue Informationen zu Spinner's Falls? Die Frage erübrigte sich. Natürlich die Kinder. Sie standen für das Leben, der Verräter für den Tod.
„Gibt es ein Problem?", fragte Vale.
Alistair sah auf und begegnete dem aufmerksamen Blick des Viscounts. „Nein." Entschieden stellte er sein Glas beiseite. „Sind Sie auch zu dem Empfang geladen?"
„Gott bewahre, ich doch nicht!"
Alistair grinste. „Gut. Dann könnten Sie etwas für mich erledigen, während ich in Blanchards Lunchgesellschaft einfalle."
17. Kapitel
Jede Nacht ging der Zauberer hinunter in den Eibengarten und freute sich am Unglück des verwunschenen Soldaten. Bei Tag verschanzte er sich in seiner Burg und sann über neues Unheil nach.
Eines Tages gesellte eine Schwalbe sich zu den Vögeln, die sich auf Wahrsprechers Schultern niedergelassen hatten. Wie der Zufall es wollte, war es eine der Schwalben, die von dem bösen Zauberer gefangen gehalten worden waren, und wie es schien, erkannte sie ihren Retter von einst. Anmutig flog sie auf eine der Eibenhecken und pickte ein einzelnes Blatt auf. Dann breitete sie die Flügel aus und flog hoch hinauf in den Himmel, fort von der Burg ...
Aus „Der Wahrsprecher"
D ie Lunchgesellschaft war schon in vollem Gange, als Helen und Alistair sich vor dem Haus des Earl of Blanchard einfanden. Sie waren so spät, weil Alistair im Hotel unbedingt noch auf irgendeine mysteriöse Nachricht hatte warten müssen. Gerade als Helen endgültig zum Aufbruch gedrängt hatte, war dann ein schmächtiger kleiner Junge angerannt gekommen und hatte Alistair einen reichlich zerfledderten Brief überreicht. Alistair hatte ihn gelesen, einen Laut der Zufriedenheit von sich gegeben und den Jungen mit einem Schilling und einer hastig verfassten Antwort wieder auf den Weg geschickt.
Während sie nun warteten, dass ihnen geöffnet werde, tippte Helen ungeduldig mit der Schuhspitze auf den Boden.
„Bleib ganz ruhig", murmelte Alistair neben ihr.
„Wie sollte ich?", fuhr Helen ihn leise an. „Ich weiß wirklich nicht, warum dieser Brief so wichtig war. Was, wenn wir den Lunch nun verpasst haben?"
„Haben wir nicht. Siehst du, die ganze Straße hinauf stehen noch die Kutschen der Gäste. Außerdem dauern solche Gesellschaften immer Stunden, das weißt du." Mit einem Seufzer fügte er hinzu: „Du hättest auf mich hören und im Hotel bleiben sollen.”
Helen funkelte ihn an. „Es sind meine Kinder."
Er hob den Blick gen Himmel.
„Sag mir noch mal, was genau du jetzt vorhast."
„Eigentlich muss ich Lister nur dazu bringen, seinen Anspruch auf die Kinder aufzugeben", erwiderte Alistair in einem beschwichtigenden Ton, der sie fast wahnsinnig machte.
„Ja, aber wie willst du das anstellen?"
„Vertrau mir."
„Aber ..."
In diesem Moment wurde die Tür von einem etwas abgekämpft aussehenden Hausmädchen geöffnet. „Ja?"
„Wie immer zu spät, fürchte ich", dröhnte Alistair so laut und fröhlich, dass Helen ihren Ohren nicht traute. „Und nun ist meiner Gattin gerade noch ein kleines Malheur mit ihrer Garderobe passiert. Könnten Sie uns wohl erst in ein Zimmer führen, wo sie sich in Ruhe zurechtmachen kann?"
Das Mädchen riss seinen entsetzten Blick von Alistair los, trat rasch zur Seite und ließ sie eintreten. Blanchard House war das vornehmste Haus am Platz, die Eingangshalle
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