Ein unversoehnliches Herz
anschließend an den Kopf. Er schien aufrichtig bekümmert zu sein. Dann wurde es mucksmäuschenstill im Raum, nur der Bürostuhl von Andreas quietschte ein wenig. Sören Christer blickte erneut zu Boden. Er hörte Madeleine in einem anderen Teil des Hauses.
Plötzlich fühlte er, dass alles ihre Schuld war. Wenn sein Vater sich nicht die ganze Zeit um andere kümmern müsste, würde er mehr für ihn empfinden. Immerhin war er sein Sohn. Sein einziges Kind. Vielleicht, dachte er, hetzte Madeleine seinen Vater ständig gegen ihn auf, weil ihre Töchter bei ihnen wohnen sollten. Er wünschte sich, etwas tun zu können, um sie verschwinden zu lassen. Es war ihre Schuld, dass sein Vater wütend war.
Ja, je länger er darüber nachdachte, desto deutlicher wurde es, dass Madeleine seinen Vater regelrecht gezwungen hatte, ihn fortzuschicken. So wie der neue Mann seiner Mutter es in Rom getan hatte. Amelie hatte es natürlich auf eine Menge verschiedener Dinge geschoben. Aber er hatte ihr Tagebuch gelesen, aus dem klar und unmissverständlich hervorging, dass sie ihn dabehalten wollte, dieser Tscheche ihr jedoch ein Ultimatum gestellt hatte.
Sören Christer ballte unwillkürlich die Hände zu Fäusten, wenn er daran dachte, wie sich alle gegen ihn verschworen hatten.
Andreas schien sich zu fragen, ob er es mit seinem Lachen nicht zu weit getrieben hatte. Auf seiner Oberlippe hatten sich kleine Schweißperlen gebildet. Dann bekam er den Gesichtsausdruck, der fast immer auftauchte, wenn er sich mit Sören Christer stritt. Jene Miene, die Sören Christer nie zu deuten vermochte, da sie heißen konnte, dass sein Vater ihn umarmen wollte, aber auch, dass er ihn schlagen wollte, damit er endlich begriff.
Mehrfach hatte er Sören Christer gesagt, er begreife nicht, warum dieser es ihm als Vater so schwer mache. Kannst du nicht einfach tun, was alle dir sagen? In einem fast flehenden Ton. Wenn das keine Wirkung zeigte, verlor er die Beherrschung. Meistens wurde er kurz darauf krank und musste Vorlesungen ausfallen lassen oder die Arbeit an seinem Buch unterbrechen.
Sören Christer wollte nichts lieber, als seinen Vater umarmen. Aber es war, als stünde ein großer, eichener Schreibtisch unverrückbar zwischen ihnen. Andreas schien immer nur dann Zeit für ihn zu haben, wenn er lange Reden darüber schwang, was bei Sören Christer alles nicht stimmte. Wie jetzt.
Als sie eine Weile schweigend zusammengesessen hatten, nahm Andreas die Blätter erneut zur Hand und fuhr mit schleppender Stimme fort:
»Als du mit uns auf Ven warst, hast du ein paar Kisten aufgebrochen. Allem Anschein nach mit dem Ziel, an Frauenkleider zu kommen. Anschließend hast du dich entsprechend ausstaffiert und bist auf den Wegen herumstolziert. Eine ähnliche perverse Tendenz hat dazu geführt, dass du Damenunterwäsche gekauft hast, zum Beispiel Unterhemden, Strümpfe, Korsetts, die du anschließend zu Hause angezogen hast. Du hast lange vor dem Spiegel gesessen und dich selbst betrachtet. Petrén zufolge ist unklar, ob dies mit Masturbation einhergegangen ist oder nicht. Allerdings, heißt es hier weiter, hast du von klein auf ein geradezu weibliches Interesse an Kleidungsstücken gezeigt, wolltest du stets ausgesprochen vornehm und versnobt gekleidet sein, Seidenstrümpfe und so weiter. Du hast viel Zeit mit der Kleiderwahl verbracht und noch mehr, um dich zu waschen, was einen geradezu zwanghaften Charakter angenommen hat. Du hast dich den halben Tag gewaschen und nur Waschbecken einer bestimmten Größe benutzen können, hast dich endlos gekämmt und geschrubbt …«
Andreas blätterte zur letzten Seite um und räusperte sich:
»Nun ja, jedenfalls endet der Brief: ›Auf Grund der oben mitgeteilten Informationen und Beobachtungen ist Sören Christer meiner Auffassung nach in einer Art und einem solchen Maße psychisch abnorm, dass er in einer Nervenheilanstalt behandelt werden muss, was hiermit nach bestem Wissen und Gewissen attestiert wird. Stockholm, den 12. August 1921. Alfred Petrén, Doktor der Medizin und Oberinspektor für die Pflege von Geisteskranken in Schweden.‹«
Dann legte Andreas alle Blätter zusammen und sagte mit bedächtiger und sehr müder Stimme:
»Und, was machen wir jetzt?«
Mehr wurde bei ihrem Gespräch im Arbeitszimmer nicht gesagt. Sören Christer brauchte seinem Vater in den folgenden Tagen jedoch nicht aus dem Weg gehen, da Andreas drei Tage mit hohem Fieber im Bett lag und danach rund um die Uhr an den Vorlesungen
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