Ein unversoehnliches Herz
seinem Stuhl zurück und kratzte sich an der Wange. Dann griff er wieder nach den Blättern.
»Fahren wir mit dem Gutachten fort«, sagte er. »Jetzt konzentrier dich mal ein bisschen. Hier steht auch etwas über den Sommer 1918, als wir in dem Sommerhaus auf der Insel Ven waren. Dort hast du meine Zigaretten gestohlen, um sie anschließend den Arbeitern auf dem Gutshof zu verkaufen. Darüber hinaus hat Petrén sich sehr für den Vorfall interessiert – was einen nicht weiter wundert –, zu dem es kam, als ich dich zu berichtigen versuchte und du so wütend wurdest, dass du nach einer Axt gegriffen und mir gedroht hast, mich umzubringen.«
Andreas schüttelte den Kopf, als könnte er nicht begreifen, wie so etwas passieren konnte. Er strich sich flüchtig über die Stirn, ehe er fortfuhr.
»Der Zwischenfall führte dazu, dass du als Kostgänger in einem Pfarrhof auf dem Land untergebracht wurdest, wo du zudem weiter unterrichtet werden solltest. Wiederholte Konflikte mit den Kindern deiner Gastfamilie führten jedoch dazu, dass du dort nicht bleiben durftest. Ein einziges Mal hat es halbwegs funktioniert, als du bei einem Krankenhausseelsorger untergebracht warst, der damit umzugehen wusste, was Petrén deine ›abnormen Charakterzüge‹ nennt.«
Andreas lehnte sich vor, stemmte die Ellbogen auf den Schreibtisch und lächelte.
»Das war im Grunde der einzige Ort, an dem du dich anscheinend wohlgefühlt hast, nicht wahr?«
»Er war nett«, sagte Sören Christer.
»Ja, er ist ein feiner Mensch. Aber du wurdest zu alt, das war natürlich bedauerlich. Obwohl auch er gesagt hat, du hättest des Öfteren Dinge gestohlen. Hast du das getan?«
»Nein, habe ich nicht!«
Andreas breitete die Arme aus und seufzte. Dann schüttelte er den Kopf. Es war ihm deutlich anzusehen, dass er dieser Beteuerung keinen Glauben schenkte. Sören Christer schien etwas sagen zu wollen, überlegte es sich dann jedoch anders und richtete sich stattdessen erneut auf seinem Stuhl auf. Schwei gend blieben sie eine Weile so sitzen, bis Andreas weiter las.
»Nun … Weiterführende Studien mit dem Ziel, Geschäftsmann zu werden, wurden 1920 am Handelsgymnasium Malmö begonnen. Unterbringung bei einem Lehrer. Die schulischen Leistungen waren schlecht, kein Interesse an der Schullaufbahn, fehlende Hausaufgaben, ging lieber ins Kino und Theater, auch in Restaurants. Beschaffte sich das dazu nötige Geld, indem wir gebeten wurden, Geld für Bücher zu schicken, die dann auf Kredit besorgt wurden. Dann bist du dazu übergegangen, dir Bücher von deiner Gastfamilie und Bekannten zu leihen, die du anschließend verkauft hast. Nahm sich auch andere Gegenstände und verpfändete sie. Ließ oftmals Waren auf den Namen seines Vaters anschreiben … Ich begreife nicht, Sören Christer, warum du die ganze Zeit stehlen musst. Liegt es daran, dass du feine Sachen, schöne Kleider, besitzen willst? Aber ist es nicht ein komisches Gefühl, Dinge zu haben, von denen du in deinem tiefsten Inneren weißt, dass du sie anderen gestohlen hast?«
»Ich habe mir nur ab und zu was genommen … du und Mutter, ihr habt mir ja nie was zum Anziehen geschickt. Was sollte ich denn tun, ohne Kleider herumlaufen?«
»Das stimmt doch gar nicht, und das weißt du auch. Du bist besser gekleidet als ich und deine Mutter. Schau selbst, wie du aussiehst. Du gibst doch nur vor, etwas Besonderes zu sein, zum Beispiel, aus einer französischen Aristokratenfamilie zu stammen. Das sind doch alles nur Flausen, du spielst eine Rolle.«
»Ich spiele keine Rolle.«
»Was ist es denn dann?«
»Ich …«
Sören Christer verstummte. Dann sah er seinem Vater zum ersten Mal in die Augen.
»Ich will, dass andere mich sehen, dass sie mich mögen. Ich will jemand sein.«
Andreas lachte schallend, als traute er seinen Ohren nicht. Und als sein Lachen abebbte, begann es von Neuem. Gleichzeitig war unübersehbar, dass er mit jedem neuen Lachen wütender wurde.
Es ging so weit, dass Sören Christer sich die Ohren zuhielt.
»Dass sie dich sehen? In des Kaisers neuen Kleidern?«
Je mehr er die Fassung verlor, desto lauter wurde Andreas’ Stimme.
»Du bist erwachsen, du kannst so nicht weitermachen! … Ich … und jetzt kommen wir zum Schlimmsten von allem, was Petrén geschrieben hat. Es ist mir so peinlich, dass ich … ich kann es dir kaum vorlesen. Verdammt!«
Er fluchte noch einmal, diesmal jedoch leise, lehnte sich mit einer heftigen Bewegung auf dem Stuhl zurück und packte sich
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