Ein unversoehnliches Herz
weg.
Wird er mich vermissen?
Nein, wohl kaum.
Du hast mir einmal gesagt, in der Liebe sei es entscheidend, zu zeigen, dass man willens ist, für einen anderen Menschen Opfer zu bringen.
Ich nahm an, dass du mir damit sagen wolltest, ich hätte für meinen Sohn nicht genügend Anstrengungen unternommen. Da hast du Recht. Natürlich hast du Recht. Viel schlimmer ist jedoch, dass in mir Zweifel daran aufkeimen, ob Sören Christer jemals ein einziges Opfer für einen anderen Menschen als sich selbst bringen wird.
Nein, denkst du. Steh hier nicht herum und zweifle. Denk nicht an mich oder Sören Christer.
Du öffnest die Tür, ganz vorsichtig, willst nur nachsehen, ob Gunhild noch schläft. Obwohl, es kann warten, es kann warten … wenn sie schläft, kannst du später noch einmal wiederkommen. Vielleicht wäre es dir sogar ganz lieb, wenn sie noch schliefe, sodass du die Sache aufschieben und Kraft schöpfen könntest und nicht zu einer Notlüge über mein Ableben greifen müsstest.
Du zögerst erneut und bist dir dessen bewusst. So vieles hätte anders sein können. Gunhild hätte gesund oder wenigstens nicht kränker als bei eurer ersten Begegnung sein können.
Du hast das Gefühl, ein Stahlseil in der Brust zu haben, das sich spannt. Und du weißt: früher oder später wird es reißen. Manchmal ahnst du das furchtbare Gefühl fast voraus, wenn das Seil nachgibt, den Schlag in der Brust, wenn es zurückschnellt.
Du weißt, es ist kein Leben, so auf dem Krankenlager dahinzusiechen, während der Arzt regelmäßig vorbeischaut und neue Diagnosen stellt, neue Medikamente verschreibt.
Aber mir zuliebe, denkst du, mir zuliebe hat es Würde.
Möge es mir erspart bleiben, zu verlieren, was mir am nächsten steht, den eigentlichen Kern aller Liebe, die ich in meinem Leben erfahren durfte! Mir zuliebe kannst du doch leben, mir zuliebe kannst du doch noch ein bisschen ausharren!
Dann stehst du zögernd im Türrahmen.
Vielleicht ist sie wütend auf dich oder enttäuscht, obwohl du sie nur schützen wolltest. Welche andere Aufgabe hat dein Leben eigentlich, als sie vor allem Übel zu bewahren und das Quäntchen Gesundheit zu schützen, das ihr noch geblieben ist?
Welche Rolle spielt es, ob sie erfährt, dass ich mir das Leben genommen habe?
Welche Rolle spielt es, ob ich lebe oder tot bin?
Und dann platzt Amelie herein und stellt alles auf den Kopf.
Anschließend ist sie wieder auf und davon, auf dem Weg zu einem sicheren Ort, an dem sie die Welt betrachten kann, wie sie ihr in den Kram passt. Ihre Fähigkeit, dir gleichsam beiläufig für alles zu danken, was du für Sören Christer, ihren Sohn, getan hast.
Du bist mit den Depressionen und Anfällen des Jungen zurechtgekommen. Wir schafften das nicht. Amelie begegnete ihnen mit einem schlechten Gewissen und Abwesenheit, ich ihnen mit noch stärkeren Depressionen und heftigeren Wutanfällen.
Sobald du die Tür weit genug geöffnet hast, siehst du Gunhild, die sich umdreht. Als wäre die Tür für sie das Signal zum Aufwachen gewesen. Ihre Haare liegen auf dem Kissen verteilt, und du siehst sie die Augen öffnen und dich anblinzeln.
Sie ist wach.
Du betrittst das Zimmer und schließt leise die Tür hinter dir.
»Du bist wach?«
»Bist du es, Poul?«
Für einen Moment fragst du dich, für wen sie dich sonst halten könnte. Aber es ist sicher albern, so zu denken. Im Grenzland zwischen Wachsein und Traum, in dem sie sich so häufig aufhält, kann jeder Mensch zu jedem werden. Verwirrte Patienten haben dich auf jede erdenkliche Weise angesprochen.
Alle sind nicht nur Menschen, sondern auch Symbole für etwas, das sich nicht immer leicht deuten lässt. Wer weiß schon, wem sie in ihrem Traum kurz vor dem Aufwachen begegnet ist? Es könnte jeder gewesen sein. Ein Freund, ihr Vater oder ihre Mutter, ihr erster Mann …
Du gehst zu ihr und nimmst ihre Hand. Sie ist kalt, und du wärmst sie, indem du sie sanft zwischen deinen Handflächen reibst.
»Wollen wir mal schauen, ob wir sie nicht ein bisschen wärmer bekommen?«
Sie lächelt, sieht dich zärtlich an, sagt aber nichts. Sie wirkt immer noch benommen.
»Gut geschlafen?«
Sie nickt, versucht zu lächeln.
»Schön«, sagst du. »Hast du Hunger?«
Sie schüttelt den Kopf, lächelt erneut. Dieses tapfere Lächeln, das immer einen warmen Strom durch deinen Körper sendet.
»Kannst du mir ein bisschen hochhelfen, Poul?«
»Natürlich.«
Du schlägst die Kissen auf, damit sich die Daunen gleichmäßiger
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