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Ein unversoehnliches Herz

Titel: Ein unversoehnliches Herz Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Håkan Bravinger
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Atmosphäre einlullen lassen und fast vergessen, warum sie eigentlich da war.
    »Wissen Sie, Frau Posse-Brázdová, unsere Anstalt hat zwei Abteilungen, und die offene ist viel zu lasch für Ihren Sohn. Andererseits ist die geschlossene möglicherweise etwas sehr streng. Aber ihr Gatte, Verzeihung, Ihr früherer Gatte, hat mit großem Nachdruck betont, dass Ihr Sohn den größten Teil des Tages eingesperrt werden muss. Wie ich schon sagte, Sie bleiben bei Ihrer Entscheidung?«
    Hätte sie Sören Christer doch nur nicht angelogen.
    Sie hatte ihm versichert, dass er in einer ruhigen und erholsamen Umgebung wohnen würde, wohlwissend, dass man ihn einzusperren beabsichtigte. Bald würde er es erfahren, und sie würde erneut lügen und beteuern müssen, dies sei sicher ein Missverständnis. Es fiel ihr unglaublich schwer, mit seiner Angst, Wut und Verzweiflung umzugehen. Er war so unberechenbar und im Unterschied zu anderen in seinem Alter kaum in den Griff zu bekommen. Und deshalb war sie ihm solch eine schlechte Mutter.
    Außer Liebe brauchte er Schutz und eine feste Hand. Ihr war es bloß gelungen, ihm Liebe zu geben, dagegen hatte sie niemals die Fähigkeit besessen, ihn zu schützen oder ihm klare Grenzen zu setzen. Seltsamerweise hatte er ihre Liebe jedoch immer als ganz selbstverständlich vorausgesetzt. Sie berührte ihn nicht.
    Als sie bei dem Schneider in Berlin waren, hatte sie den üblichen Fehler begangen: Statt einer festen Hand hatte sie wieder einmal eine lächerliche Imitation von Liebe gezeigt. Für sein Wohlergehen wäre es weitaus besser gewesen, wenn sie ihm den teuren Anzug verwehrt hätte. Aber was konnte sie jetzt noch daran ändern? Es ließ sich nicht ungeschehen machen, er war gekauft, und sie musste sich ihrer Nachgiebigkeit schämen.
    Sören Christer kehrte mit Doktor Marks zurück, der sich Amelie vorstellte. Er war der Mann, erläuterte von Ehrenwall mit sonorer Stimme, der für Sören Christers Behandlung verantwortlich zeichnen würde. Doktor Marks war jung und hatte ein angenehmes Äußeres, fand Amelie. Außerdem wirkte er klug und humanistisch gesinnt. Ihre größte Sorge war, dass in der Anstalt zu viel deutsche Disziplin herrschen könnte. Immerhin waren einige alarmierende Geschichten darüber im Umlauf, auch wenn Poul sie als blanken Unsinn abgetan hatte. Stattdessen hatte er sich lang und breit darüber ausgelassen, dass die Deutschen den Schweden in der Psychologie, nicht zuletzt, was Kinder und Jugendliche anging, immer voraus gewesen waren.
    »Ich habe mir gedacht, Frau Posse-Brázdová«, sagte Doktor Marks, »dass wir einen kleinen Spaziergang im Park machen könnten, während Herr Kling Sören Christer sein Zimmer zeigt.«
    Ja, dachte Amelie, er hat wirklich eine angenehme Art, dieser junge Arzt. Sie atmete auf und strich mit der Hand durch Sören Christers Haar.
    »Das hört sich doch gut an, nicht wahr, Sören Christer? Wir sehen uns wieder, wenn ich mit Doktor Marks gesprochen habe.«
    Sören Christer zuckte mit den Schultern und begab sich in die Obhut des großgewachsenen Pflegers, der, ohne dass Amelie ihn bemerkt hätte, die ganze Zeit zwei Meter hinter ihnen gestanden hatte. Ihr drängte sich unweigerlich der Gedanke auf, dass von Ehrenwall intelligent und imposant und Marks freundlich und einfühlsam sein mochten – dieser Kling mit seinen riesigen Schultern und seinem breitbeinigen Gang dagegen in erster Linie brutal aussah.

Lieber Bruder …
    Du zögerst, weißt aber, dass du zu Gunhild gehen musst. Das Missverständnis muss aus der Welt geschafft werden. Vor ihrer Tür bleibst du jedoch stehen, denkst an mich und siehst mein Gesicht vor dir. Oft fällt es dir schwer, anhand meines Gesichts auf mein Alter zu schließen. So auch jetzt. Vielleicht bin ich fünfundzwanzig, vielleicht auch etwas älter. Seltsamerweise ist in dem Gesicht, das du nun vor deinem inneren Auge siehst, Platz für alle Altersstufen.
    Du wirfst den Kopf, als wolltest du das Bild abschütteln, seufzt schwer und massierst dein rechtes Bein, das eingeschlafen ist. Manchmal sitzt du im Atelier lange unbequem und merkst es erst, wenn es zu spät ist. Dann musst du dich für den Rest des Tages mit einem Krampf herumschlagen. Du denkst, mehr als alle anderen, denen du je begegnet bist, braucht Sören Christer eine neue Chance. Trotz seines jugendlichen Alters hat er sich schon überall unmöglich gemacht.
    Du weißt nicht, wann ihn die Nachricht von meinem Tod erreichen wird. Er ist ja so weit

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