Ein unversoehnliches Herz
Bedingungen war an Lesen nicht zu denken.
Heute würde das alltägliche Einerlei immerhin dadurch unterbrochen werden, dass der Privatlehrer auf dem Weg zur Anstalt war. Laut Amelie besaß er alle möglichen Qualifikationen, was angeblich auch der Grund dafür war, dass man ihn erst einen Monat später als geplant nach Ahrweiler hatte holen können. Sören Christer sah seiner Ankunft freudig entgegen, auch wenn er nicht wusste, ob es tatsächlich stimmte, dass der Lehrer in einem der Häuser auf der anderen Seite des Gartens wohnen würde. Aber wenn es so war, müsste er doch eigentlich auch dorthin umziehen dürfen. Oder sollte der Lehrer, der ja bezahlt wurde, etwa besser wohnen als er?
Immerhin würde es jemanden geben, mit dem er sich unterhalten konnte. Am häufigsten hatte er sich mit Kling, dem Pfleger, unterhalten. Er war ein unangenehmer Mensch mit Stiernacken und dickem Kopf, dessen beste Eigenschaft seine Bestechlichkeit war. Er schmuggelte Zigaretten und andere Dinge in die Anstalt, auch wenn er aus allem Profit schlug. Aber besser so, als keine Zigaretten zu haben, dachte Sören Christer, während er vor seiner Tür das Rasseln eines Schlüsselbunds hörte. Es war Zeit für den Vormittagsspaziergang. Noch einmal Rasseln, danach ein Schlüssel im Schloss, und Kling stand im Türrahmen.
»Pause«, sagte er kurz angebunden.
Sören Christer stand vom Bett auf und zog eine Jacke an.
»Haben Sie besorgt, was Sie mir versprochen haben?«
»Natürlich«, antwortete Kling. »Sie bekommen es auf dem Rückweg.«
Schweigend gingen sie den Korridor hinab und eine Treppe hinunter. Es war Tag für Tag kälter geworden, und sobald die Sonne hinter den Dächern verschwand, wurde es eisig kalt. Sören Christer zog den Schal enger um den Hals.
»Woher kommen Sie, Kling?«
»Stuttgart.«
Sören Christer zuckte mit den Schultern. Dort war er nie gewesen, die Stadt sagte ihm nichts. Er wusste nicht, warum er gefragt hatte. Sie traten auf den Hof hinaus, wo Kling stehen blieb. Sören Christer ging mit langsamen Schritten Richtung Garten und schaute sich ziellos um. Er wünschte sich von ganzem Herzen, an einem anderen Ort zu sein, egal wo, nur nicht in Ahrweiler.
Dort ging der hagere Mann, der immer mit sich selbst redete, außer wenn sich ihm jemand näherte. Dann blieb er stehen, und seine Augen flackerten unruhig umher. Wenn er wieder allein war, hörte man ihn weitermurmeln. Unter den großen Ahornbäumen saß zusammengesunken ein alter Mann im Rollstuhl. Sein Körper war in sich zusammengesackt, und von seinem Kopf, der eher einem Totenschädel glich, standen einige graue Haarsträhnen ab. Von Zeit zu Zeit sah ein Pfleger nach ihm und richtete ihn in seinem Stuhl auf. Anschließend sank er wieder langsam, aber sicher in sich zusammen, bis er genauso zusammengeklappt dasaß wie zuvor.
So sehr er sich auch mühte, es blieb Sören Christer völlig unverständlich, was er mit diesen traurigen Gestalten gemeinsam haben sollte.
Die Einzigen, die in seinem Alter waren und halbwegs vernünftig zu sein schienen, lungerten immer an dem etwas weiter entfernten, zweiten großen Ahornbaum herum. Dort rauchten sie, oft ohne sich zu unterhalten, an den Baumstamm gelehnt und die Augen ziellos auf den Garten gerichtet.
Er tastete nach seinen Zigaretten, um sich zu vergewissern, dass sie in der Tasche lagen. Anfangs waren sie sein einziger Trost gewesen. Die Zigaretten und die Briefe seiner Eltern. Er ging mit langsamen, wenn auch bestimmten Schritten zu dem Baum, an dem die anderen bereits standen.
Als er sich zu ihnen gesellte, blieben sie stumm. Der kleinste von ihnen trat zu ihm und stieß ihn mit dem Zeigefinger an.
»Hör auf«, sagte Sören Christer.
Der Kleine sah ihn verständnislos an. Er stierte zurück.
»Er versteht Sie nicht«, sagte der junge Mann, der als Einziger gegen den Baum gelehnt saß. Im Gegensatz zu den anderen schien er seiner Kleidung nach aus besserem Haus zu sein. Außerdem hatte er einen dünnen Schnurrbart, der in Sören Christers Augen kultiviert wirkte. Jetzt warf er seinen Zigarettenstummel fort, stand auf, schüttelte einige Grashalme von seiner Hose, ging zu Sören Christer und stellte sich direkt vor ihn. Er war mehr als einen Kopf kleiner als dieser.
»Und weil er nicht kapiert, was man sagt«, fuhr er fort und zog Sören Christer einige Schritte auf die Seite, »ist es einfacher, ihm eine zu knallen.«
»Okay«, sagte Sören Christer.
»Ja, wollen Sie es denn nicht
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