Ein unversoehnliches Herz
konnte nicht verhindern, dass sie sich in seiner Gegenwart erbärmlich fühlte, nicht weil sie krank, sondern weil sie so sicher gewesen war, dass ihr Leben enden würde. Sie ahnte, dass sie im Fieberwahn eine Menge rührseliger Dinge gesagt und ihn gebeten hatte, ihre Abschiedsworte der Familie zu übermitteln.
Und dann war es bloß eine Entzündung.
Aber trotzdem, während ihres Krankenhausaufenthalts waren die Wochen wie im Flug vergangen, ohne dass sie zu etwas gekommen wäre. Als sie wieder halbwegs genesen war, wagte es Oki, ihr die Briefstapel zu zeigen. Kaum hatte sie sich in den Lesesessel gesetzt, um durchzusehen, was zuoberst lag, als auch schon neue Post eintraf. Sie legte alles Alte auf die Seite und stellte sich ans Fenster, um sie zu öffnen. Es fiel ihr leichter, mit dem Neuen anzufangen. Das Alte konnte warten.
Ganz oben lag ein Telegramm. Kaum hatte sie die drei Sätze gelesen, als sie sich auch schon wieder setzen musste. Das Telegramm von Doktor von Ehrenwall war kurz und knapp: »Ihr Sohn ist weggelaufen. Wo sind Sie? Kommen Sie bitte schnellstmöglich nach Berlin.«
Nein, dachte sie, nein, nein, nein .
Oki trat ins Zimmer und sah sofort, dass etwas nicht stimmte. Seine ersten Worte erstaunten sie nicht.
»Ist etwas mit Sören Christer?«
Sie nickte.
»Musst du hinfahren?«
»Ich habe keine andere Wahl.«
Im selben Moment kam ein Windstoß vom Fenster. Die heilende italienische Wärme, die sie gesünder machen sollte. Aber das spielte jetzt keine Rolle. Oki legte den Arm um sie, und sie schloss die Augen. Sie hätte ihm so gerne gesagt, wie viel er ihr bedeutete und dass er ihre Rettung gewesen war, als sie sich in Rom kennenlernten.
Sie liebte so viel an ihm, seine ruhige Art, sein Talent und seine Bereitschaft, ihr immer wieder beizustehen, wenn sie irgendwelche finanziellen Debakel verursachte. Und da waren natürlich die vielen Probleme mit Sören Christer. Oki besaß eine manchmal fast brutale Fähigkeit, deutliche Worte zu finden. Dennoch hatte sie gelernt, auch diese Seite an ihm zu lieben, weil so nie etwas Unausgesprochenes zwischen ihnen stand.
»Slavo und Jan sind draußen und spielen?«
»Ja«, antwortete Oki. »Sie springen Seil mit den Nachbarskindern.«
Sie umarmte ihn und presste sich so fest an ihn, wie sie nur konnte. Dann aber seufzte sie und trat einen Schritt zurück.
»Ich gehe raus und rede mit ihnen.«
»Tu das. Aber Amelie, was immer du vorhast … versprich mir, Sören Christer nicht hierherzubringen.«
Ahrweiler, 24. Oktober 1921
Sören Christer warf einen Blick in sein Portemonnaie. Wenn es ihm gelänge, sein Geld zusammenzuhalten, müsste er zumindest ein paar Wochen über die Runden kommen, vor allem, wenn er zunächst eine billige Zugfahrkarte und anschließend eine einfache Pension fand. Er überlegte, ob Paris die beste Alternative war. Auch Amerika war verlockend, aber dafür würde sein Geld nicht reichen. Wenn er sich dazu entschloss, musste er sich um eine Stelle auf einem Ozeandampfer bewerben. In die Anstalt in Ahrweiler würde er jedenfalls auf gar keinen Fall zurückkehren.
Er bestellte ein Bier bei einem Kellner, der das Glas auf den Tisch knallte, ohne ihn eines Blickes zu würdigen. Er bezahlte und trank einen Schluck. Im Grunde machte er sich nichts aus Bier, aber es schien das einzige Getränk zu sein, das man in diesem Lokal trank.
Er ließ den Blick über den Schankraum schweifen, sah aber nur ältere Männer mit Schnäuzern und Bärten. Arbeiter, dachte er. Sie waren alle gleich gekleidet, Hosen aus grobem Stoff, Arbeiterstiefel und Lederjacken. Wenn sie sich schnäuzten, wischten sie mit dem Ärmel unter der Nase entlang, ihre Haare waren fettig, und sie lachten laut und klopften sich gegenseitig auf den Rücken. Ihre Körpersprache blieb ihm unverständlich, ihre Gesten waren grob, sie sprachen krakeelend.
Er trank noch einen Schluck, unterdrückte ein Rülpsen und senkte den Blick. Sein Anzug, der ihm so elegant erschienen war, stach hier heraus, und er merkte, dass er unliebsame Blicke auf sich zog. Feiner Pinkel, sagten die Mienen der Männer, ehe sie wegsahen und weitergrölten.
Er dachte, dass er so viel mehr vorhatte. Es war nicht seine Bestimmung, in dieser deutschen Spelunke zu sitzen, es war niemals vorgesehen gewesen, in Ahrweiler eingesperrt zu werden. Das Ganze war ein Alptraum, ein schreckliches Missverständnis, das zu kompliziert geworden war, um entwirrt zu werden. Seine Eltern hätten wissen müssen, dass er
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