Ein unversoehnliches Herz
intelligenter war als die anderen, mit denen er aufgewachsen war. Er sprach fließend Englisch, Deutsch und Französisch, war außerdem gut in Latein und verstand mehr von Literatur als alle seine Klassenkameraden zusammen. Worüber sollte er sich mit ihnen unterhalten? Sie quatschten doch immer nur über ihre Familien, die bevorstehende Karriere oder uninteressante Dinge wie Sportstars und Revuekünstler.
Sie mussten nicht durchmachen, wozu man ihn gezwungen hatte. Das war ungerecht.
Er trank noch einen Schluck, setzte das Glas ab und schob den Stuhl zurück, um seine Beine ein wenig ausstrecken zu können. Dann traf ihn schlagartig die Erkenntnis: Er war frei. Unabhängig davon, was heute oder morgen geschehen würde, war er frei. Er drehte ein wenig an dem Manschettenknopf, den er von seinem Großvater geerbt hatte. Er konnte sich an Großvater Sören, von dem er auch den Namen übernommen hatte, kaum noch erinnern. Die Manschettenknöpfe mit den Initialen S.B. in einem Blumenkranz waren das einzige Andenken, das er an ihn hatte.
Er sah, dass sich die Köpfe sämtlicher Gäste dem Eingang zuwandten, wo eine Frau in einem Pelzmantel und mit einem großen Hut durch die Tür trat. Selten hatte Sören Christer jemanden gesehen, der so deplatziert wirkte. Eine schöne Frau in einem hellen Pelzmantel mit riesigem Kragen an einem Ort wie diesem, dachte er. Sie ging schnurstracks zum Kellner, der sie zu kennen schien, und bestellte ein Glas Cointreau. Er nickte und schenkte es ihr ein. Sie kippte das Glas hinunter, stellte es auf die Theke zurück, dankte ihm und ließ sich die Hand küssen. Dann fuhr sie herum und ging, unter den Blicken der Männer, die mit ihren Biergläsern in der Hand erstarrt dasaßen, entschlossenen Schrittes zum Ausgang.
Als sie an Sören Christers Tisch vorbeikam, blieb sie auf einmal stehen. Er konnte ihr Gesicht unter dem großen, weißen Hut nicht erkennen, als sie sagte:
»Das sind hübsche Manschettenknöpfe, mit denen du da spielst.«
»Danke …«
Zu mehr kam er nicht, bevor sie Hüften schwingend den Raum verlassen hatte. Er stützte sich auf die Armlehne des Stuhls, reckte sich so weit wie möglich und sah sie in einen wartenden Wagen steigen. Der Fahrer grüßte und öffnete ihr die Tür, wobei er die Hacken zusammenschlug.
Motorenlärm, und sie war fort.
Aber ihr Duft hing noch in der Luft. Er war süßlich parfümiert und setzte sich deutlich von den Bier- und Schweißgerüchen ab, die schwer in der Luft des Lokals hingen.
Er blieb noch einen Moment sitzen und leerte sein Bier, das mittlerweile warm war und nach Hefe schmeckte. Dann ging er zur Theke und wandte sich an den Kellner.
»Wer war die Frau?«
Der Kellner überhörte seine Frage geflissentlich und fuhr fort, Gläser zu polieren.
Sören Christer legte einen Geldschein auf die Theke und fragte noch einmal.
»Wer war die Frau mit dem Hut?«
Der Kellner, der einen sorgsam getrimmten Schnurrbart und schmale Augen hatte, betrachtete den Geldschein, den Sören Christer ihm hingelegt hatte.
»Die Baronin von Dreis«, antwortete er und griff nach dem Geld.
Anschließend wandte er sich um und nahm das nächste Glas. Sören Christer nickte und verließ das Lokal.
Berlin, 30. Oktober 1921
Alle Wege führen nach Rom, kommentierte Amelie oft ihre Entscheidung, nach Italien zu ziehen. In Wahrheit schienen alle Wege nach Berlin zu führen, zumindest galt dies für das Eisenbahnnetz, in dem Berlin Europas bei weitem wichtigster Verkehrsknotenpunkt war.
In einem anderen Leben, überlegte Amelie, hätte sie die Stadt sicher geliebt. Aber jetzt kam sie ihr schmutzig und unzugänglich vor, ganz ohne die südländische Wärme und Gastfreundlichkeit. Hier in der ehemaligen preußischen Hauptstadt mit ihren fast vier Millionen Einwohnern gab es große Armenviertel, und es herrschte katastrophale Wohnungsnot. Nur in London und New York lebten mehr Menschen.
Gerüchten zufolge war jeder fünfte Berliner Ausländer, trotzdem geschah in Berlin so vieles, wovon sie sich ausgeschlossen fühlte. Sie wusste, dass sich diverse Künstlerkollektive hier angesiedelt hatten, weil Paris zu teuer geworden war. Ein Freund Amelies hatte erklärt, die Amerikaner sammelten sich dort wegen des Alkohols und die Briten wegen der freizügigen Sexualität. Wenn man ihm Glauben schenkte, führte die Weimarer Republik eine massive Werbekampagne für Dekadenz – die sich eindeutig an Amerika wandte, wo man kürzlich die Prohibition eingeführt hatte,
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