Ein unversoehnliches Herz
Bahnhof von Tullinge; der Wagen, der sie nach Vårstavi bringen sollte, wartete auf sie. Wie sie es abgesprochen hatten. Sie hatte einen Auftrag bekommen und gedachte ihn auszuführen.
Im Zug war sie noch einmal alle Details durchgegangen. Sie würde Poul treffen und ihm den Brief übergeben, den Andreas geschrieben hatte. Es würde das Ende des Bruderzwists sein, in den sie in ihren dreizehn Jahren als Ehefrau von Andreas verwickelt gewesen war. Der Brief würde Andreas in Frieden ruhen lassen.
Danach war sie frei. Dann gab es für sie nichts mehr zu tun.
Sie vergewisserte sich wieder, dass der Brief noch lag, wo er liegen sollte. Ja, das tat er. Sie hatte sicher schon hundert Mal nach ihm getastet. Sie zog den Mantel enger um den Hals und spürte den eisigen Novemberwind, der anscheinend durch jeden Spalt in ihren Kleidern dringen wollte. Sie blickte auf. Durch die schweren Wolken sickerte ein wenig Sonnenlicht.
Andreas hatte ihr Leben verändert. Als sie sich verliebten, wusste Madeleine von Anfang an, dass sie bereit sein würde, alles aufzugeben. Viele dachten, es wäre eine schwere Entscheidung gewesen. Das war es nicht. Nichts sonst in ihrem Leben war ihr so selbstverständlich erschienen, so als wäre es von einer höheren Macht vorherbestimmt worden.
Manchmal dachte sie, dass alle, die es nicht verstanden, nie geliebt hatten. Nie wirklich geliebt hatten. Nur auf diese praktische und sachliche Art geliebt hatten, die so viele in ihrer Umgebung anscheinend für die einzig wahre hielten, eine Übereinkunft, die zu einer Familie und zu stabilen finanziellen Verhältnissen führte. Mit Andreas war nichts praktisch gewesen. Jeder Tag war ein Kampf gewesen. Doch selbst ihre Freunde, die sie am heftigsten kritisiert hatten, änderten fast alle ihre Meinung, sobald sie ihn kennenlernten. Keiner konnte so lebendig sein wie Andreas, keiner konnte anderen so intensiv das Gefühl vermitteln, gesehen zu werden.
Aber so herrlich es war, zum fünfunddreißigsten Geburtstag fünfunddreißig Rosen und ebenso viele importierte französische Pralinen zu bekommen, so bedrückend war es, einsehen zu müssen, dass sein Geschenk von Geld gekauft worden war, das eigentlich für Miete und andere Ausgaben vorgesehen gewesen war. Das war die Strafe dafür, mit einem Menschen zusammen zu sein, der nur für den Augenblick lebte. Er lieh Freunden Geld, selbst wenn er wusste, dass sie es ihm nie zurückzahlen können würden. Obwohl er selbst auf Pump lebte.
Sie wünschte sich, nur die schönen Erinnerungen an Andreas behalten zu dürfen. Es waren so viele. Sie bezweifelte, dass auch nur eine einzige ihrer Freundinnen genauso viele heitere Augenblicke in ihren Beziehungen erlebt hatte. Aber wenn sie nicht auf der Hut war, schlichen sich auch die düsteren Erinnerungen in ihr Inneres, die so gerne anfingen, an ihr zu zehren und zu nagen.
Wie jetzt. Plötzlich sah sie vor ihrem inneren Auge Andreas über seinen Schreibtisch in Dorpat gebeugt sitzen. Es war nur ein paar Wochen vor ihrer Rückkehr aus Estland gewesen. Sie war zu ihm gegangen, hatte seine Wange gestreichelt und ihn zu überreden versucht, sich auszuruhen und eine Weile hinzulegen. Das Morphium hatte ihn ruhiger werden lassen und seine Schmerzen nach der Gallensteinoperation gelindert, aber das Medikament schien ihn innerlich lahmzulegen, während sein Gehirn pausenlos dagegen ankämpfte. So wie sich ein Kind noch lange nach dem Zubettgehen gegen den Schlaf wehrt.
»Bald«, sagte er. »Ich will nur noch ein Kapitel durchsehen.«
Das sagte er immer. Wenn er das Kapitel durchgearbeitet und Korrektur gelesen hatte, würde er sich als Nächstes auf den Vortrag stürzen, den er später in jener Woche an der Universität halten sollte. Die Blätterstapel auf dem überfüllten Schreibtisch und zu beiden Seiten davon waren wie eine ständige Erinnerung an seine Unzulänglichkeit und Kränklichkeit. Ohne das Morphium wäre er nicht einmal aus dem Bett gekommen.
Wochenlang hatte er nur bewegungslos dagelegen und die Wand angestarrt. Wenn er aufgestanden war, dann nur, um schnurstracks zum Seminarraum zu gehen und ein paar Stunden später als Wrack heimzukehren.
Warum hatte sie nur so lange gebraucht, bis sie erkannt hatte, dass die Professur, die doch seine Rettung hätte sein sollen, in Wahrheit sein Untergang war! Sie konnte nicht fassen, dass sie dies zugelassen hatte. Sie hätte ihn zwingen müssen fortzugehen, bevor es zu spät war.
Sie verstand nicht, wie es ihr
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