Ein unversoehnliches Herz
massive Invasion weißgesäumter Fitisse beobachten konnte.
Fauna und Flora . Zweiundzwanzigster Jahrgang
Lieber Bruder …
Manchmal habe ich über deine Träume und deine Erwartungen an dich selbst nachgedacht. Es muss Momente geben, in denen selbst du an deiner Größe zweifelst.
Ich muss einfach daran denken, wenn ich dich so neben Gunhilds Bett sitzen sehe. Du hockst seltsam geduckt, als wäre alle Luft aus deinem Körper gewichen und du zu müde, um neue zu holen. Du gleichst einem Ausatmen.
Du sitzt an Gunhilds Bett und siehst, dass sie dich in dieser Welt allein zurücklassen wird. Du stellst dich der Tatsache nicht, wagst es noch nicht, den Schmerz zuzulassen.
Aber du weißt es. In deinem tiefsten Inneren weißt du es.
Was bleibt von einem Menschen? Ein wenig Asche, Knochenreste? Oder soll man diesen fantastischen Geschichten Glauben schenken, in denen es heißt, die Seele verlasse den ausgedienten Körper, um im ewigen, paradiesischen Glücksreich aufzugehen?
Ich weiß, es gibt nichts, was du dir jetzt lieber wünschen würdest. Nicht dir, sondern Gunhild zuliebe. Du weißt, dass dein Leben schon bald keinen Sinn mehr haben wird. In ein paar Tagen ist es vorbei. Gleichzeitig weißt du jedoch, wenn du einmal Rückschau hältst, wird eine Trennlinie zwischen diesem Tag und allen anderen verlaufen.
Gunhild hustet. Zunächst ganz leicht, es sieht nicht weiter schlimm aus, sie versucht sogar weiterzusprechen, aber der Husten steigert sich zu einem immer heftigeren Anfall, der kein Ende zu nehmen scheint.
Plötzlich bekommt sie keine Luft mehr, ihr Gesicht läuft feuerrot an, und sie bekommt einen glasigen Blick. Du beugst dich über sie und hilfst ihr, die Atemwege frei zu machen. Als du sie berührst, spürst du, wie ihr Körper darum kämpft, Luft zu bekommen.
Der Anfall dauert mehr als eine Minute – eine der längsten deines Lebens –, aber dann lassen die Konvulsionen nach, und sie wird schwer und hängt in deinen Armen.
Du legst sie wieder in die Kissen.
Es ist vorbei. Für den Moment.
Aber der Anfall hat sie sehr mitgenommen, das siehst du ihr an. Sie ist erschöpft, große Schweißperlen stehen ihr auf der Stirn, die Augen liegen noch tiefer in den Höhlen als sonst, sind rot unterlaufen und schwer.
Es bleibt lange still, bis sie schleppend und atemlos weiterspricht, und sie sieht dir in die Augen, als sie die Worte stoßweise, fast Silbe für Silbe, ausspricht:
»Ich kann nicht mehr … Ich weiß, dass du es verstanden hast, Poul … Geliebter. Ich habe keine Kraft mehr … es ist keine mehr da. So gerne ich auch welche hätte, es ist keine da … es reicht … es reicht jetzt …«
Sprachlos bleibst du sitzen und hast das Gefühl, einen Schlag ins Gesicht bekommen zu haben.
Nie zuvor hast du sie diese Worte aussprechen gehört.
»Ich kann nicht mehr«, wiederholt sie und schüttelt, ohne wegzusehen, den Kopf, obwohl ihr Blick immer feuchter wird und sie immer öfter blinzelt.
Du hast niemals Grund gehabt, an ihren Worten zu zweifeln. Und es zerreißt dir fast das Herz, als du erkennst, dass du auch jetzt keinen Grund dazu hast. Es ist die Ankündigung des Endes.
Des unausweichlichen und schrecklichen, des hoffnungslosen und unwiderruflichen Endes. Insgeheim hast du immer gewusst, dass sie dich eines Tages verlassen wird.
All die Jahre im Wartezimmer des Todes. Und dann passiert es so grauenvoll und unerbittlich.
Du glaubst, dass dich in diesem Moment keiner sieht.
Aber du irrst dich, Bruder. Ich sehe dich.
Aber du siehst nicht das Tier, du
behandelst mich wie einen Menschen.
Vårstavi, 27. November 1925
Als sie die Zugtür öffnete, um auf den Bahnsteig zu treten, schlug Madeleine der Wind ins Gesicht. Er traf sie so überraschend und hart, als hätte sie einen Schlag in die Magengrube bekommen. Auf einmal gab es keinen Halt mehr. Es war, als würde man fallen.
Im letzten Moment gelang es ihr, sich mit beiden Händen festzuhalten. Am meisten erschreckte sie, dass niemand etwas bemerkt zu haben schien. Die Leute, die im Waggon hinter ihr standen, blieben stumm und erkundigten sich nicht, ob sie Hilfe benötigte, sondern warteten nur darauf, selbst aussteigen zu können.
Als hätte sie sich das nur eingebildet.
Sie riss sich zusammen und stieg auf den Bahnsteig. Kurz darauf blies der Stationsvorsteher in seine Trillerpfeife, und der Zug sammelte Kraft und rollte langsam davon.
In gewisser Weise war sie erleichtert. Jetzt gab es kein Zurück mehr. Sie befand sich am
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