Ein unversoehnliches Herz
jedoch eher wie ein hoffnungsloser Fall, wie jemand, der nach Australien geschickt wurde, um möglichst wenig Schaden anzurichten.
Wie ich, lachte er auf.
Er sah auf die Uhr, stand auf und öffnete die Tür.
»Frau Hamilton, ich kann Herrn Bjerre jetzt empfangen.«
Anschließend kehrte er zu seinem Schreibtisch zurück, setzte sich, faltete den langen Brief zusammen und verstaute das Konvolut in der obersten Schreibtischschublade.
Er stand auf und ging zum Fenster. Der Nachmittagsverkehr war dichter geworden, und er sah die Autos und Karren, die sich unter ihm auf der Straße drängten, die Zeitungsstände, an denen den Passanten die neuesten Schlagzeilen zugerufen wurden. Dann hörte er ein leises Klopfen und drehte sich um.
»Sören Christer, komm rein, komm rein. Setz dich.«
Er zeigte auf den Sessel und war überrascht, wie hübsch der Junge geworden war, gut gekleidet und feingliedrig. Aus irgendeinem Grund hatte er geglaubt, die Dinge, die er hinter sich hatte, hätten ihn grobschlächtiger gemacht. Stattdessen sah er aus wie ein gesunder, auf unverdorbene Art intellektueller Jüngling.
»Danke«, sagte Sören Christer, ließ sich nieder und schlug ein Bein über das andere.
»Tee? In diesem Land trinkt man high tea wie in England.«
»Danke, gern.«
Einar gefiel das Lächeln des Jungen. Er ging zur Tür und bat Frau Hamilton, ihnen Tee zu besorgen. Dann setzte er sich hinter seinen Schreibtisch.
»Herzlich willkommen in Australien.«
Sören Christer lächelte breit und nickte höflich.
»Dann erzähl mal, welche Pläne hast du in deinem neuen Land?«
»Nun ja …«, begann Sören Christer zögernd.
Dann richtete er sich auf seinem Stuhl auf und sagte mit klarer Stimme:
»Vater und ich hofften, dass ich unter Umständen eine Stelle im Konsulat bekommen könnte. Für den Anfang vielleicht nichts Besonderes. Ich kann Botengänge erledigen, wenn es das ist, was es an Arbeit gibt. Ich bin nicht anspruchsvoll. Sprachen sind allerdings meine Stärke.«
»Ich verstehe«, sagte Einar und sah eine Mitarbeiterin mit dem Tee kommen.
Während sie Tassen und Teller verteilte, schwiegen sie und betrachteten die Frau. Einar dachte, dass er eine Wahl hatte und eine Entscheidung treffen musste. Entweder befolgte er Andreas’ Anweisungen akribisch, oder er gab Sören Christer eine Chance, die über das hinausging, was in dem Brief stand.
Er beobachtete Sören Christer aufmerksam. Er fand, dass der Junge für sein Alter reif aussah, ganz anders, als Andreas ihn beschrieben hatte. Dann rief er sich jedoch ins Gedächtnis, dass sein Freund an mehreren Stellen seines Briefs betont hatte, der Junge könne sich gut verstellen und sein psychischer Defekt lasse ihn Rollen spielen. Spielte er in diesem Moment vielleicht nur die Rolle des wohlerzogenen Sohns eines guten Freunds?
»Aber bitte, bedien dich«, sagte Einar und lachte gutmütig. Er sah Frau Hamilton mit den für sie so typischen langsamen Schritten an der Tür vorbeigehen, damit sie möglichst viel von der Unterhaltung mitbekam. Ihr leicht zu durchschauendes Verhalten versetzte ihn stets in gute Laune.
Sören Christer bedankte sich, nahm ein Scone und bestrich es mit einer dicken Schicht Erdbeermarmelade.
Einar beschloss, dem jungen Mann ein benefit of a doubt zu geben. Das australische Motto. Er lehnte sich vor und sah, dass Sören Christer ihn mit vollem Mund anschaute.
Einar sagte mit klarer Stimme:
»In dieses Land kommen Verbrecher und Glücksritter. Viele beginnen ein völlig neues Leben, dafür gibt es hier unzählige Beispiele. Ich denke, du könntest einer von ihnen werden, Sören Christer. Herzlich willkommen in Australien, herzlich willkommen in deinem neuen Leben. Ich hoffe und glaube, dass du etwas Gutes daraus machen wirst.«
V Der Weg nach Vårstavi
(1925)
Schon Gätke beobachtete etwa hundert Fälle [ …]. Seinen Beobachtungen zufolge sollte der Vogelzug hierzulande Ende September beginnen und den ganzen Oktober andauern. In einzelnen Fällen sind auch noch Anfang November Funde gemacht worden. Wie alle anderen sibirischen Vögel trifft man ihn im Frühling dagegen äußerst selten an, Gätke kann bloß zwei gesicherte Fälle vorweisen. Ein östlicher und speziell südöstlicher Wind bei warmem, sonnigem Wetter wäre erforderlich, damit der Vogel als Durchzügler beobachtet werden könnte [ …] Eine ganz gegensätzliche Beobachtung machte jedoch Banzhaf, der während einer längeren Phase mit westlichen Winden im Jahr 1922 eine
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