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Ein unversoehnliches Herz

Titel: Ein unversoehnliches Herz Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Håkan Bravinger
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abwischte.
    Madeleine fühlte, dass ihre Wangen getrocknet wurden, und erkannte, dass sie geweint haben musste. Unmöglich, dachte sie. Warum sollte ich das getan haben?
    Allerdings fehlte ihr jede Erinnerung an die letzten Minuten. Sie hatten sich eben erst an den Esstisch gesetzt, und danach … sie hatte keine Ahnung, woran sie gedacht hatte. Dann sah sie Poul, der ihr gegenübersaß.
    Er sah sie so seltsam an. Mit Ekel oder Verachtung? Sah er eine schwache und lebensunfähige Frau vor sich? Sie schluckte schwer, sah Signhild knicksen, sich Poul zuwenden und wieder knicksen.
    Jetzt begriff sie, dass Pouls Verärgerung Signhild galt, der Haushälterin. Sie hatte eine Grenze überschritten, die nicht passiert werden durfte, war einem Gast zu nahe getreten, hatte sich aufgedrängt. Signhild drehte sich um und wollte gehen, aber Madeleine gelang es, sie an dem Arm festzuhalten, der die Wasserkaraffe hielt. Sie schien sich frei machen zu wollen, aber Madeleine zog sie, so sanft es eben ging, näher an sich heran.
    Sie sah Signhild in die Augen und sagte:
    »Danke, das war sehr freundlich von Ihnen.«
    Aber Signhild sah sie nur verständnislos an.
    »Danke, gnädige Frau«, erwiderte sie, ehe es ihr gelang, sich frei zu winden und das Zimmer zu verlassen.
    Madeleine spürte jähen Zorn in sich aufwallen. Sie wandte sich Poul zu, der nachsichtig den Kopf schüttelte.
    »Dass du es wagst«, zischte Madeleine zwischen den Zähnen hervor.
    Poul sah sie verständnislos an.
    Jetzt rollte der Zorn durch ihren Körper, sie war ganz und gar erfüllt von ihm, war wie berauscht von ihm.
    »… eine Frau zu demütigen, nur weil sie freundlich ist. Was ist daran denn so bedrohlich? Du sitzt da und … redest nur über etwas, das … redest nur …«
    Sie hatte keine Worte mehr.
    Sie spürte es im Augenwinkel zucken.
    Jetzt wollte sie weinen. Nicht wie eben, als sie geweint hatte, ohne es zu wissen. Wie ein billiges Sieb. Das hier war etwas ganz anderes. Es war Wut unter Tränen.
    Sie sah Andreas’ Gesicht vor sich. Poul, der ihr gegenübersaß, existierte in ihrer Welt nicht mehr. Er war ein Wesen, auf das sich ihr Zorn richtete, aber er bedeutete ihr nichts mehr. Er war irrelevant, eine Nichtperson, genauso tot wie die Menschen, von denen er erzählte. Sie musste ein Schluchzen unterdrücken, dann noch eins, es zurückhalten, in die Magengrube zurückpressen. Sie betrachtete Andreas’ Gesicht: Warum hast du mich verlassen?
    Aus dem Augenwinkel sah sie Poul von seinem Stuhl aufstehen, sah seine Stirn und seinen Hals, die sich, rötlich verfärbt, deutlich von seinem ergrauenden Haar absetzten. Aber sie fühlte sich von ihm nicht länger bedroht.
    »Geht es dir nicht gut, Madeleine?«, sagte er.
    »Du verstehst überhaupt nichts«, sagte sie und bemühte sich, nicht die Stimme zu erheben. »Nichts verstehst du, und nichts hast du jemals verstanden.«
    Auf einmal sah er mitgenommen aus. Er verschränkte die Arme, betrachtete sie.
    »Wenn du mich beleidigen willst, bitte, nur zu«, sagte er mit sachlicher Stimme. »Du hast einen guten Lehrmeister gehabt. Mein Bruder beherrschte diese Kunst wie die Chinesen ihre Schriftzeichen. Keiner war ausgefuchster als er, wenn es um die Kunst der Erniedrigung ging.«
    »Kannst du nicht einfach mal aufhören, Poul? Aufhören mit diesen … Messerstichen . Ich ertrage das nicht. Kannst du nicht einfach aufhören, auf Andreas herumzuhacken, jetzt, da er nicht mehr unter uns ist? Deine eiskalte, berechnende Art geht mir durch Mark und Bein. Sie ist grauenvoll. Aber sie ist auch vollkommen weltfremd. Du sitzt hier und redest von … redest von chinesischen Schriftzeichen!«
    »Pass gut auf, was du sagst, Madeleine. Sonst geht es hier nicht mehr darum, dass du in Trauer bist. Sonst geht es um Revanche und Vendetta. Ich habe eigentlich gedacht, dass wir über so etwas stehen.«
    »Nenn es, wie du willst.«
    »Andreas’ Tod war für uns alle ein schwerer Schlag.«
    »Er wollte sterben!«
    Auf einmal wurde es still im Raum. Als schwiege plötzlich selbst die Lautlosigkeit. Der Wind heulte nicht mehr in den Bäumen vor dem Haus, die Wände knackten nicht, das Service stand reglos auf dem Tisch.
    In und um das Haus herrschte Totenstille.
    Nie zuvor hatte sie solch eine eisige Stille gespürt. Denn jetzt lag die Stummheit überall und wartete so beängstigend wie erwartungsvoll.
    »Er wollte sterben …«, wiederholte sie.
    Ihre Stimme war jetzt schwächer, und sie musste sich konzentrieren, um

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