Ein unversoehnliches Herz
so unsicher, was sie gehört und was sie nicht gehört hatte.
In diesen Augenblicken und Minuten, während derer sie aus dem Gespräch verschwand, gab es nichts, worauf Verlass war. Wie jetzt. Sie sah, dass Poul sich auf seinem Stuhl zurücklehnte und das Besteck weglegte.
Hier sitzt er, dachte sie, in seinem wohlgeordneten Dasein, ein Fürst, der sein Reich in Luft aufgehen sieht, während er eine kleine unterhaltsame Soiree vorbereitet.
Sie fand es ziemlich geschmacklos. Verborgen in der Burg seiner Einsamkeit, sprach er über seine Lieben. Als befände er sich in einer Scheinwelt.
Sie sah ihn einen Moment zur Decke schauen. Anschließend ergriff er mit seiner ausdruckslosen Stimme das Wort und befingerte sein Kinn, als wollte er so seinen Einfallsreichtum stimulieren.
Sie kaute, schluckte und lauschte seiner predigenden Stimme.
»Es ist einmal eine junge Frau zu mir gekommen. Ich habe über sie geschrieben. Anfangs konnte sie mir nicht erklären, warum sie mich aufgesucht hatte. Sie sprach über ganz alltägliche Dinge, nichts als belangloser Tratsch aus einem bürgerlichen Familienleben. Nichts von dem, was sie mir erzählte, deutete auf einen Konflikt oder auch nur auf ein Problem hin …«
Madeleine sah, dass sich sein Blick beim Sprechen von der Decke löste und die Wand hinabglitt.
Sie sah, wie sich sein Mund bewegte.
Aber sie fühlte nichts und begriff nicht, wie die Worte mit dem Gesicht zusammenhingen, das sie betrachtete.
Als wäre der Mund ein völlig autonomer Teil seines Körpers.
Er fühlt nichts , dachte sie. Das waren alles nur Worte. Als lauschte man dem immer gleichen Rhythmus des Zugs auf den Gleisen. Du-dunk, du-dunk. Er saß an diesem Esstisch und sprach allen Ernstes von einer Frau, einer Person, die ihm außer als Objekt nicht das Geringste bedeutete. Wie sollte sie es sonst deuten? Eine Nichtperson, die so ausführlich wie inhaltsleer über eine andere Nichtperson sprach. Ein intellektualisiertes und frei erfundenes Nichts.
Und sie saß ihm gegenüber und wurde selbst zu einer Nichtperson.
Sie nickte, um zu zeigen, dass sie ihm zuhörte, sagte »aha«, um interessiert zu klingen. Aber sie begriff nicht, was er ihr sagen wollte. Plötzlich überkam sie unbändige Lust, zu ihm zu gehen, die Daumen auf seine Augen zu legen und zuzudrücken. Fest. Seine Augen bis in den Schädel zu pressen.
Sie sah ihn als riesigen Schokoladenweihnachtsmann, den sie mit bloßen Händen zerdrücken wollte. Sie musste das alles wirklich werden lassen, zu einem Schmerz, der greifbar war, sie musste ein Teil der Pein sein, die Worte aus der Harmlosigkeit zu etwas Greifbarem führen.
»… als sie sich zu unserem dritten Gespräch niederließ, fiel ihr versehentlich etwas aus der Handtasche auf den Boden. Sie bückte sich instinktiv, um den Gegenstand aufzuheben – ich glaube, es war eine Haarnadel, möglicherweise auch ein kleiner Stift –, schien stattdessen jedoch auf ihrem Stuhl zu erstarren. Sie blieb sitzen und stierte auf den Fußboden, wo der Gegenstand lag. Sie sagte kein Wort, ihr Mund stand halb offen …«
Das klingt so seltsam, dachte Madeleine. Als würde es rauschen. Nein, kein Rauschen, es war eher so, als wäre man im Wasser. Alles tönte dumpf und verzerrt, fast hätte man meinen können, dass der Ton abgewürgt wurde, als befände man sich in einem kleinen Raum, aus dem langsam, aber sicher die Luft gesogen wurde. Und gleichzeitig dieses Weiche, als wäre alles in mehrere Schichten Baumwollstoff gebettet.
»Darf ich Ihnen noch etwas einschenken, gnädige Frau?«, hörte sie plötzlich.
Sie erstarrte. Einschenken? Eine seltsame Frage.
Langsam drehte sie den Kopf nach rechts, von wo die Stimme gekommen war, und erblickte Signhilds lächelndes Gesicht.
Doch das Lächeln erstarrte.
Als hätte sie etwas Alarmierendes erblickt. Was hat sie nur gesehen, dachte Madeleine, warum hat sie aufgehört, mich so freundlich anzulächeln? Weil es so lange dauerte, bis sie eine Antwort bekam?
Dann veränderte sich Signhilds Gesichtsausdruck von Neuem und wurde freundlich. Kein Lächeln. Aber freundlich.
Ein mütterliches Lächeln.
Und Signhild nahm das Handtuch, das über ihrem Arm lag, und hob es zu Madeleines Gesicht.
Warum tut sie das?, dachte Madeleine. Warum hebt sie das Handtuch an mein Gesicht?
Sie spürte den warmen Stoff auf ihrer Wange, sah das freundliche, das mütterliche Lächeln in Signhilds Gesicht, und spürte, dass die Frau fast entschuldigend ihre Wangen
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