Ein unversoehnliches Herz
schöner zu werden?«
» So lange nicht. Ein, zwei Stunden, glaube ich.«
Andreas half ihm, sich aufzusetzen, platzierte Kissen als Stütze und zog die Decke hoch. Sörens Haare waren fettig, nachdem sie viele Stunden auf dem Kissen gelegen hatten, sein Bart musste getrimmt werden, aber am deutlichsten sah man, wie sehr Sören abgemagert war, seit Andreas ihn zuletzt gesehen hatte. Wie lange war das her? Er staunte, als ihm klar wurde, dass seither nur ein Monat vergangen war. Wenn er sah, wie tief die Augen seines Vaters in ihre Höhlen gesunken und Nase und Ohren auf seltsame Art größer geworden waren, war das kaum zu glauben.
»Von allem, was ich gelesen habe«, sagte sein Vater unvermittelt mit festerer Stimme, »ist die Bibel das mit Abstand idiotischste. Warum sollte es für ein Kamel leichter sein, durch ein Nadelöhr zu gehen, als für einen Reichen, ins Reich Gottes zu kommen?«
Wie üblich in diesen Tagen, sprang Andreas’ Vater übergangslos vom Alltäglichen zum Ernsten.
Sein Vater sprach weiter in den Raum hinein:
»Das ist doch völlig verrückt. Als ich arm war, machte ich vieles, wofür ich mich heute noch schäme. Wenn ich mir damals wünschte, reich zu werden, geschah dies, um ein reicherer Mensch zu werden. Verstehst du?«
Andreas nickte.
»Du hast viel Gutes getan«, sagte er.
Aber Sören tat seinen Kommentar mit einem Schnauben ab.
»Spar dir deine Schmeicheleien für die Beerdigung.«
Die Worte kamen hart und schneidend, und Andreas glaubte, dass sein Vater ihnen eine beschwichtigende Bemerkung folgen lassen würde, wartete jedoch vergebens.
Stattdessen fuhr Sören mit der gleichen seltsam tonlosen Stimme fort:
»Ich kann mit diesen ganzen unsinnigen Prinzipien und Aussagen einfach nichts anfangen. Wenn man den Wunsch hat, sich zu Lebzeiten nach der Bibel zu richten, erweist sie sich als eine idiotische Schrift.«
Dann aber wurde seine Stimme sanfter, und er streckte die Hand nach Andreas aus.
»Ich habe einen Brief von Madeleine bekommen.«
»Ja, Vater, ich weiß.«
»Sie scheint sehr sympathisch zu sein. Ich muss dir sagen, dass es vier Dinge gibt, die mich im Moment unendlich glücklich machen. Dass du eine Frau getroffen hast, bei der ich das Gefühl habe, dass sie dich glücklich machen wird; dass du auf dem besten Weg bist, etwas Anständiges aus deinem Leben zu machen; dass Amelies letzter Brief zeigt, wie gut es ihr in Rom geht und dass sie einen schönen Ort zum Leben gefunden hat. Und schließlich die Hoffnung, dass du mit Madeleine noch ein Kind bekommen wirst. Kinder sind das Geschenk des Lebens, Andreas. Ich kann das gar nicht oft genug sagen.«
»Ja, Vater, da hast du Recht.«
Andreas lächelte nachsichtig. Die Familie war das Lieblingsthema seines Vaters. Für die Menschen, die einem nahe standen, war kein Opfer zu groß. Das hatte er im Laufe der Jahre immer wieder betont.
»Aber mit ihnen gehen auch große Verpflichtungen einher.«
»Natürlich«, sagte Andreas.
Er spürte, dass Sören seine Hand fest drückte und sie schüttelte, als hätten sie soeben eine Abmachung getroffen.
»Madeleine schreibt in ihrem Brief, dass du Antialkoholiker geworden bist?«
»Ich habe seit zwei Monaten keinen Tropfen mehr angerührt.«
»Ich denke, deine Trinkerei ist immer eine Folge deiner furchtbaren Angst gewesen, die ich ehrlich gesagt nie verstanden habe. Aber vielleicht kann ich solche Dinge auch nicht verstehen. Du hast in deinem Inneren so viel mit dir herumgeschleppt, dass ein Außenstehender es nicht begreifen kann. Und du fühlst dich jetzt viel besser?«
»Ich bin überzeugt, dass ich in dieser neuen Phase einiges … Ich bin sehr glücklich, Vater. Wahnsinnig glücklich.«
»Gut.«
Sein Vater hustete kurz, hielt sich dabei jedoch nicht die Hand vor den Mund. Andreas dachte, dass das früher, als er noch gesund war, undenkbar gewesen wäre.
»Und Amelie wird auch heiraten?«
»Es sieht ganz so aus«, antwortete Andreas.
»Diesen Künstler? Woher kam er noch?«
»Böhmen.«
Sein Vater nickte schwer, als hätte er Borneo verstanden.
»Andreas, du sollst wissen, dass ich hier liege, ohne zu wissen, ob ich jemals wieder das Bett verlassen werde … und alles, woran ich immer und immer wieder denke, ist der Hass auf meinen Vater. Es ist mir … es ist mir nie gelungen, mich von diesem Hass zu befreien. Dass er mich geschlagen hat, war eine Sache, aber dass er es so bestialisch und berechnend getan hat … das schüttelt man nicht einfach so ab. Man muss
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