Ein unversoehnliches Herz
eben auch nicht. Es war irgendwie verzerrt, er war abgemagert, ergraut und dann dieses Kauen.
Andreas fühlte etwas Furchtbares in sich aufwallen, und spürte plötzlich, dass ihn die Tränen zu übermannen drohten. Er atmete mehrmals tief durch, um sie zurückzudrängen.
Der Gefühlsausbruch endete abrupt, als er seinen Vater mit erstaunlich klarer Stimme sprechen hörte:
»Ich habe so viele schreckliche Erinnerungen an meinen Vater. Bei der schlimmsten von allen geht es gar nicht darum, wie es war, wenn er mich misshandelte oder sich über mich lustig machte. Ich hatte mein Geld gespart, um mir meinen ersten eigenen Anzug zu kaufen. Ich war noch ziemlich jung, fünfzehn vielleicht. Ich wollte meine Kameraden nach Kopenhagen begleiten und war unheimlich stolz auf meinen Anzug. Aber als ich ihn anzog, zwang mich mein Vater, stattdessen wieder meine üblichen Kleider anzuziehen. Die tun es auch, sagte er. Danach sah ich den Anzug im Kleiderschrank hängen, bis ich aus ihm herausgewachsen war und ihn deshalb nicht mehr anziehen konnte. Ich habe ihn aufs Feld getragen und verbrannt. Wenn ich mich daran erinnere, wie er in Flammen aufging, bringt mich das manchmal sogar heute noch zur Verzweiflung.«
Er seufzte und wandte sich mit einem schiefen Lächeln Andreas zu.
»Kierkegaard glaubte, sein ganzes Leiden habe damit angefangen, dass sein Vater einmal Gott verflucht hat. Wenn es etwas gibt, was ich verstehe, dann das.«
Andreas begriff nicht ganz, was sein Vater eigentlich meinte. Aber ehe er ihn fragen konnte, waren Sörens Augen auch schon wieder geschlossen. Sein Gesicht entspannte sich, und das Wiederkäuen hörte auf.
» Ich verstehe das, ich verstehe das …«
Wie eine gemurmelte Litanei auf dem Weg in den Schlaf, weit, weit weg.
Lieber Bruder …
Endlich ist aus der Nacht Morgen geworden. Du bist angezogen und streichst dir über die Augenbrauen. In letzter Zeit wuchern sie immer mehr, und du überlegst, ob du sie stutzen sollst. Oder sähe das womöglich zu eitel aus, zu weiblich?
Du wendest den Blick vom Spiegel ab und schaust auf die Uhr. Halb acht. An einem Montag wärst du jetzt auf dem Weg zu deiner Praxis, der Zug fährt um 8.07 vom Bahnhof Tullinge ab, und mit dem Fahrrad benötigt man zwanzig Minuten dorthin. Normalerweise übernachtest du in der Praxis und kehrst erst Mittwoch oder Donnerstag nach Vårstavi zurück. Doch jetzt, mitten im Winter, wärst du wohl zu Fuß zum Zug gegangen und somit schon unterwegs gewesen.
Heute hast du außer dem, was zu Hause erledigt werden muss, keine Verpflichtungen. Es gibt viel zu tun: Als Erstes musst du nach Gunhild sehen, sie wird frühstücken, das Bett muss neu bezogen und sie angezogen werden. An Tagen, an denen sie sich etwas besser fühlt, ist dies die schönste Zeit. Dann verbringt ihr den ganzen Vormittag in ihrem Zimmer. Wenn es ihr schlechter geht, schläft sie die meiste Zeit. An diesen Tagen gehst du auf und ab und bekommst nichts getan.
Um zehn kommt Doktor Lenmalm, um Medikamente zu verabreichen und Gunhild zu untersuchen. Danach herrscht Ruhe bis zum Nachmittag, an dem Amelie zu einem ihrer seltenen Besuche erwartet wird. Du hast beschlossen, dich im Atelier aufzuhalten und die beiden allein zu lassen. Du hältst das, gerade unter den gegebenen Umständen, für besser. Dir fehlt nach der Szene, die Madeleine dir gemacht hat, die Kraft für eine weitere aufreibende Begegnung. Außerdem hat Gunhild darum gebeten, mit ihrer Tochter allein sein zu dürfen. Du hast sie nicht nach dem Grund gefragt, es war nichts, worüber du dir Gedanken machen musstest. Gunhild weiß, was sie tut. Das hat sie immer getan. Die wenigen Male, die sie gezögert hat, bist du zur Stelle gewesen, um ihr beizustehen, aber nie, ohne dass sie dich vorher gefragt hat, das ist eure stillschweigende Übereinkunft, die seit eurer ersten Begegnung gilt. Immerhin habt ihr euch nicht als orientierungslose Zwanzigjährige kennengelernt; ihr wart bereits unabhängige Individuen.
Aus irgendeinem Grund, du weißt nicht recht, wieso, fühlst du dich plötzlich von mir beobachtet. Du siehst den wutentbrannten Blick vor dir, den ich dir zuwarf, als ich damals aus den Flitterwochen heimkehrte – einen Blick, der nichts glich, was du je zuvor gesehen hattest. Er sei lebensvernichtend und gegen Gunhild gerichtet gewesen, sagtest du. Diesen Blick siehst du jetzt vor dir. Du kneifst den Mund zu, um ihn verschwinden zu lassen.
Im Grunde, denkst du, konnte es nur so enden, dass Gunhild
Weitere Kostenlose Bücher