Ein unversoehnliches Herz
ging es immer weiter, bis Sörens Vater krank wurde und kurze Zeit später im Alter von neunundvierzig Jahren starb. Der Alkohol und sein finanzielles Scheitern hatten seinen Körper ausgezehrt.
Sören wusste sehr wohl, dass er in seinem Leben wahrscheinlich härter gearbeitet hatte als die meisten, und das aus einem einzigen Grund: Nie wieder sollte ihn jemand faul und lahm schelten.
Er war neunundzwanzig, als er von seinem Vater befreit wurde und zu einem Onkel auf der Insel Saltholm zog. Danach durfte er für Großhändler Cræmer arbeiten, der in Kopenhagen Butter verkaufte. Die Geschäfte liefen gut, und schon bald konnte Sören in Malmö eine eigene Filiale eröffnen. Zum ersten Mal in seinem Leben blickte er mit einer gewissen Zuversicht nach vorn.
Er war bereit für den großen Schritt.
1874 zog er mit Frau und zwei kleinen Töchtern nach Göteborg und gründete dort sein Unternehmen, für das England der wichtigste Markt war. Außerdem bekam die Familie Zuwachs: Poul wurde 1876, Andreas 1879 geboren. Dank der Exportrekorde in den Achtzigern florierte der Handel, und er nahm binnen weniger Jahre vierhunderttausend Kronen ein und galt als die zehntreichste Privatperson in Göteborg.
Er selbst meinte, der Schlüssel zu seinem Erfolg seien Geschäftssinn und sein vorsichtiger Umgang mit Krediten gewesen. Er war dafür bekannt, dass er geradezu panische Angst davor hatte, Bankdarlehen aufzunehmen. Eine Geldschuld, erklärte er, sei damit gleichzusetzen, jederzeit zum Konkurs gezwungen werden zu können, weil das Geld möglicherweise eingetrieben wurde.
Ein Geizkragen war er deshalb nicht. Weit gefehlt. Es lag ihm viel daran, dass seine Angestellten sich wohl fühlten und seine Kinder in den Genuss von Vorteilen kamen, die ihm selbst verwehrt worden waren. Seine Töchter sollten standesgemäß heiraten und die Söhne eine gute Ausbildung bekommen.
Außerdem zahlte sich sein vorsichtiger Umgang mit Krediten aus. In der Wirtschaftskrise der neunziger Jahre wurden alle, die hohe Kredite aufgenommen hatten, in den Konkurs getrieben. Familie Bjerre konnte dagegen 1901 eine noch größere Wohnung beziehen, diesmal in der Wasagatan 34, jene Wohnung, in der Sören den Rest seines Lebens verbringen sollte.
Vor diesem Gebäude stand nun Andreas und drückte mit dem Schuh seine Zigarette aus. Er sah den Dampf seiner Atemluft aufsteigen und machte kehrt, um wieder in die Wohnung hinaufzugehen. Er war froh, dass die anderen abgereist waren: Poul zu seiner Praxis in Stockholm, Ellen zu ihrem Pfarrer in Kristinehamn. Nur Maria war noch da, aber sie hatte bereits gepackt und würde in einer Stunde von ihrem Mann abgeholt werden. Wenn er denn pünktlich auftauchte. Es war ein offenes Geheimnis, dass ihr Mann und sie finanziell sehr unter Druck standen, man munkelte sogar, dass sie schon bald völlig verarmt sein würden.
Aber seine Mutter war natürlich auch noch da. Er wusste nicht, was er ihr sagen sollte, hätte sie gerne umarmt und getröstet, aber es ging nicht, so sehr er es auch versuchte. Sie saß in der Wohnung und strickte wie besessen, Stunde um Stunde, ohne aufzublicken.
Andreas verstand sie einfach nicht. Sie war ihm immer ein Rätsel geblieben. Sie reagierte so sprunghaft, dass er niemals wusste, was in ihr vorging. Manchmal erstarrte ihre Miene, und sie verschloss sich wie in eine Muschel, in der sie für alle anderen unerreichbar war. Sie sprach nicht einmal aus, dass ihr Mann schwerkrank war. Stattdessen sagte sie Dinge wie: Vater ist müde. Vater ist überarbeitet.
Sie ging auch nur selten in sein Zimmer, jedenfalls soweit Andreas es beurteilen konnte. Wenn sie bei ihm war, las sie ihm wichtige Post vor, um praktische Ratschläge zu bekommen. Das meiste blieb liegen, die Zeitungen lagen unangetastet neben dem Bett, Briefe von besorgten Freunden blieben ungeöffnet. Natürlich, dachte Andreas, hat sie Angst, ihm in seiner Schwäche zu begegnen. Immerhin hatte er ihr in einer für sie so unsicheren Welt stets Sicherheit geboten.
Manchmal wollte sie von Andreas wissen, worüber sein Vater gesprochen hatte. Nichts Besonderes, antwortete er dann meistens, worauf sie nur nickte. Er bekam große Lust, ihr zu sagen, sie solle doch selbst hineingehen und mit ihm sprechen. Immerhin gab es sicher vieles, was geregelt werden musste. Es wusste doch jeder, dass schon ganze Familien auf Grund von Erbstreitigkeiten in die Brüche gegangen waren. Allerdings bezweifelte Andreas nicht, dass sich sein Vater um alles
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