Ein unversoehnliches Herz
brachte jedoch kein Wort heraus, bis sie ihre Frage wiederholte.
»Warum? Warum willst du nicht leben?«
Warum will ich aufhören zu sterben? , versuchte er zu sagen, blieb jedoch stumm.
Früher Abend. Andreas stand am Fenster und hielt das Manuskript in der Hand. Es wog so leicht in seinem Griff. Wie konnte ein so großer Teil seines Lebens nur um diese wenigen Papierbögen kreisen? Er fand es fast schon komisch. Was zur nächsten Frage führte: War das Mörderbuch der Fluch seines Lebens gewesen oder das, was ihn in dieser Welt gehalten hatte?
Er blätterte mit dem Daumen in den Seiten, als wären sie ein Kartenspiel. Es erinnerte an einen Kinematographen, der kleine Muster aus schwarzer Tinte auf weißem Papier bildete. Er wiederholte die Bewegung mehrmals, mit unbewegter Miene, lauschte dem Rascheln hinterher.
Dann hielt er auf einer Seite inne und las:
In erster Linie dürfte ohne weiteres offensichtlich sein, dass die sexuellen Triebe dieser Verbrecher niemals das Fundament bilden können für oder auch nur aufgehen können in seelischer Liebe selbst einfachster, primitivster Art, da das Bewusstsein ihrer eigenen Lebensuntauglichkeit von Anfang an das Entstehen aller denkbaren Voraussetzungen für eine solche Liebe unmöglich macht.
Das letzte Tageslicht sickerte zwischen den Vorhängen herein, ganz schwach, es war bereits früher Abend. Die dunklen Wolken würden schon bald alles verschlingen, was ihnen im Weg war.
Er trat ans Fenster, zog die Vorhänge zur Seite, blickte hinaus und sah den Tag zum Abend und zur Nacht werden. Er beobachtete, wie sich draußen die Kälte ausbreitete, die Schornsteine ihren wärmenden Rauch ins Freie wälzten. Der Duft von Braunkohle, der schwer auf der anderen Seite des Fensters hing, stieg ihm in die Nase. Er atmete tief ein. Der Geruch setzte sich in seinem Gaumen fest wie Asche.
Ein Peitschenhieb, und er sah, gezogen von einem alten Klepper, knarrend einen Brauereiwagen vorbeifahren. Das neunzehnte Jahrhundert, dachte er, hier zieht es in der Gasse vorüber und ahnt scheinbar nichts von der neuen Zeit, in der man alles automatisieren wird. Das Zeitalter der Maschinen. Vor dem klapprigen Wagen lag die Zukunft und wartete darauf, das Kommando zu übernehmen.
Er hatte nie daran gedacht, nicht so. Er war immer ein Teil der Zukunft gewesen, doch nun, als er das Gefährt vorbeifahren sah, nicht wissend, dass im zweiten Stock eine Person stand und es ebenfalls betrachtete, fühlte er, wie flüchtig die Zukunft trotz allem gewesen war, als hätte sie stets anderen gehört, aber nicht ihm.
Er hatte so vieles vollbringen wollen.
Und was war daraus geworden?
Nichts, nicht das Geringste.
Er seufzte. Eines Tages wachte man dann auf, und das meiste lag bereits hinter einem. Und daraufhin trottete man willenlos weiter, von einem Peitschenhieb oder irgendeinem Befehl angetrieben, bewegte sich ohne jeden Sinn und immer nur in eine Richtung, die andere einem vorgaben.
Er schloss die Augen und verbarg das Gesicht in den Händen. Die Fenster im Haus gegenüber waren weitgehend dunkel. Als er noch bei seinen Eltern in der Wasagatan in Göteborg gewohnt hatte, war er oft am Fenster gestanden und hatte hinausgeschaut. Eine unmerkliche Kraft schien ihn dorthin zu ziehen. Und so war es schon gewesen, bevor er die Frau im Fenster gegenüber erblickt hatte.
Aber als er sie gesehen hatte, war er jeden Abend zum Fenster gegangen und manchmal stundenlang stehen geblieben, nachdem er gewissenhaft alle Lampen in der Wohnung gelöscht hatte. In völliger Dunkelheit waren seine Augen dann der Frau durch die verschiedenen Zimmer gefolgt, manchmal den ganzen Abend lang, sechs, sieben Stunden am Stück.
Als sie von der Taille aufwärts nackt herumlief, hatte es begonnen. Ihr schien nicht bewusst zu sein, dass man sie von dem Haus auf der anderen Straßenseite aus sehen konnte.
Jeden Abend stand er nun dort, rauchte und achtete darauf, die Zigarettenglut mit der Hand zu verdecken. Seine misslungene Zeit in der Kadettenschule hatte ihn wenigstens gelehrt, wie leicht es war, einen rauchenden Feind anhand der aufglühenden Flamme zu sehen, die beim Ziehen an einer Zigarette entstand.
Manchmal bekam sie Besuch, es waren mindestens zwei, vermutlich jedoch drei verschiedene Männer, die sie zu unterschiedlichen Zeitpunkten besuchten. Sie umarmten sie, legten sich ins Zeug, um ihre Aufmerksamkeit zu erlangen, das war selbst aus der Ferne deutlich zu erkennen.
Das charakteristische Spiel, mit dem
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