Ein unversoehnliches Herz
Wagen wartet bereits), dass Du der Meinung zu sein scheinst, ich sollte Mutter die Wahrheit vorenthalten, um ihre Gesundheit zu schonen.
So kenne ich meine Mutter nicht.
Aber ich werde darauf nicht weiter eingehen, da du möglicherweise etwas weißt, das sich meiner Kenntnis entzieht und der Grund für Deine Bitte ist. Falls es so sein sollte, werden wir uns aussprechen müssen, sobald Du mir Dein Wissen anvertraut hast. Sollte ich daraufhin erkennen, dass mein Handeln falsch gewesen ist, kann ich dies nur bedauern und für eventuell entstandene Schäden um Entschuldigung bitten. Es ist seit jeher die Grundlage der Beziehung zwischen meiner Mutter und mir gewesen, worüber Du niemals Zweifel hegen brauchtest, dass wir völlig offen zueinander sind.
Deine ergebene
Amelie
Du legst den Brief auf den Schreibtisch und seufzt schwer, nicht nur einmal, sondern mehrmals hintereinander. Im ersten Moment empfindest du Wut, aber sie verwandelt sich rasch in Niedergeschlagenheit, in Verzweiflung darüber, immer nur Widerspruch zu ernten und missverstanden, unterschätzt zu werden.
Warum wird dir trotz aller Liebe und Fürsorge, die du stets allen in deiner Umgebung schenkst, misstraut? Wie ist das möglich? Es ist dir ein Rätsel.
Du weißt vielleicht etwas, das sich meiner Kenntnis entzieht.
Was glaubt sie? Dass du es bloß erfunden hast? Dass du ihr aus egoistischen Gründen etwas vorenthalten hast?
Wie dumm kann ein Mensch sein?
Das ist wirklich empörend, denkst du. Als wärst du, der führende Seelenarzt in diesem Land, in Angelegenheiten der menschlichen Psyche vollkommen ungebildet!
Und wie üblich bist du es, der nun wieder alles ins Lot bringen muss. Jetzt musst du Gunhild trotz ihrer Schwäche erklären, dass ich tot bin und du ihr das verschwiegen hast.
Du richtest dich auf und schaust dich um. Du befürchtest, jemand könnte deinen Ärger bemerkt haben. Sicherheitshalber wirfst du einen Blick in den Flur. Nein, auch dort ist niemand. Gut, denkst du. So. Jetzt kannst du alles gerade rücken. So wie du es als Erwachsener nur zu oft getan hast. Immer diese gehässigen Blicke, die sich dir zuwandten. Als wärst du es, der Probleme machte.
Wie zum Teufel können sie derart ernste Dinge einfach so auf die leichte Schulter nehmen? Wie ist es nur möglich, dass die Menschen solche Idioten sind?
Du hämmerst mit der Faust auf den Schreibtisch, dass es im Zimmer widerhallt. Augenblicklich bekommst du ein schlechtes Gewissen. Hat Signhild das etwa gehört oder vielleicht sogar Gunhild?
Du zupfst das Leinenjackett zurecht, streichst mit der flachen Hand mehrmals über die Hosenbeine. Anschließend atmest du tief durch, um alles, Stimme und Körpersprache, ins Gleichgewicht zu bringen. Du bist einem Schauspieler nicht unähnlich, der auf dem Weg zu seinem Auftritt ist. Als befändest du dich in einem Theaterstück mit einer Dramaturgie, zu der du jegliches Vertrauen verloren hast.
Ich wünschte, ich könnte dich bemitleiden.
Aber ich empfinde nichts, Poul, absolut nichts.
Die Nasenlöcher blähten sich Besorgnis erregend,
und außerdem roch er nach Schweiß, was er nur tat,
wenn er krank oder wütend war.
Dorpat, 28. August 1921
Die Universität von Dorpat, offiziell von Gustav Adolf II. von Schweden in seinem Todesjahr 1632 gegründet, genoss weithin einen guten Ruf, obwohl sie verhältnismäßig klein war. Bis zum Ende des 19. Jahrhunderts war Deutsch die dominierende Unterrichtssprache, dann schrieb ein Ukas des Zaren Russisch als einzige Sprache vor, mit Ausnahme der theologischen Fakultät, der erlaubt wurde, weiterzumachen wie gehabt. Mit fortschreitender Russifizierung verschlechterte sich jedoch der Ruf der Universität, nicht zuletzt in Deutschland. Bis dahin hatten einige der bekanntesten deutschen Wissenschaftler an der Universität gelehrt, beispielsweise der Embryologe Karl Ernst von Baer, der Chirurg Ernst von Bergmann, der Psychiater Emil Kraepelin und der Chemiker Wilhelm Ostwald.
Während des Ersten Weltkriegs wurden zunächst die Bibliothek nach Moskau und anschließend der Unterricht nach Woronesch verlegt. Als die Deutschen die baltischen Provinzen besetzten, wurde in den ursprünglichen Räumlichkeiten erneut eine deutschsprachige Universität aufgebaut, die allerdings nicht lange Bestand hatte, da das Deutsche Reich kurz darauf den Krieg verlor und sich rasch zurückziehen musste.
1919 wurde dann eine neue Ära an der Universität eingeleitet, diesmal jedoch unter estnischer Führung.
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