Ein Vampir für jede Jahreszeit
»Hab doch ein bisschen Vertrauen in deine Mutter.«
Auf dem Weg zu Lady Fairleys Kammer musste sich Alice immer wieder selbst maßregeln. Sie empfand keinerlei Verlangen danach, die Frau, die ihr Lebensglück ruiniert hatte, zu treffen, und schon gar nicht, mit ihr zu sprechen. Leider hatte ihr Onkel sie in dem kleinen Alkoven aufgespürt, in den sie sich zurückgezogen hatte, um in Selbstmitleid zu schwelgen und ein paar Tränen zu vergießen. Sie hatte sich dafür gescholten, dass sie das Glück, das sie mit Jonathan hätte teilen können, aufgegeben hatte und sich gleichzeitig damit getröstet, dass es die richtige Entscheidung gewesen war. Ein Leben mit einer Schwiegermutter, die sie ablehnte, wäre für sie beide unerträglich geworden.
Ihr Onkel, der noch nie Tränen hatte sehen können, hatte alles im Zimmer betrachtet, nur nicht Alice, und dabei verkündet, dass sie sich sofort und ohne Umwege zu Lady Fairleys Kammer zu begeben hätte. Dabei hatte er ihr deutlich zu verstehen gegeben, dass es sich um eine Anweisung ihrer Mutter handelte, der sie sich nicht zu widersetzen und sofort Folge zu leisten hätte.
Einen Augenblick lang hatte Alice erwogen, sich gegen den Befehl, Lady Fairley einen Besuch abzustatten, aufzulehnen, hatte dafür jedoch nicht die nötige Energie aufbringen können. Nun stand sie also ohne eine Ahnung, weshalb sie gerufen worden war, vor der Tür dieser gemeinen Hexe, die ihr Leben zerstört hatte. Sicherlich hatte es etwas mit Jonathan zu tun. Möglicherweise hatte er seine Mutter von dem Vorhaben, ihr einen Antrag zu machen, unterrichtet und Lady Fairley wollte nun sichergehen, dass Alice auch bestimmt Nein zu ihm sagte. Inzwischen waren ihre Sorgen in dieser Hinsicht überholt, aber womöglich hatte Jonathan sie noch nicht über Alices Absage informiert. Das musste sie dann wohl selbst übernehmen. Großartig .
Sie holte tief Luft, setzte ein gleichmütiges Lächeln auf und klopfte an die Tür.
»Herein.«
Der Befehlston der Dame missfiel Alice, doch sie schluckte den Ärger eilig herunter, schützte ein freundliches, falsches Lächeln vor und öffnete die Tür.
»Ah, Alice.« Lady Fairley erhob sich von ihrem Platz am Feuer und kam auf Alice zu. Seltsamerweise lächelte sie dabei freundlich. Alice wurde noch misstrauischer. »Danke, dass Ihr gekommen seid. Ich …«
»Ihr müsst Euch keine Sorgen machen, Mylady. Ich werde Jonathan nicht heiraten«, platzte Alice heraus. Das Lächeln verschwand vom Gesicht der älteren Dame und sie blieb wie vom Donner gerührt stehen.
Da Alice davon ausgegangen war, dass sich Lady Fairley über die Neuigkeiten, die sie ihr verkündet hatte, freuen würde, war sie völlig unvorbereitet darauf, dass diese sie anbrüllte: »Oh doch, das werdet Ihr sehr wohl!«
Alice war sich nicht sicher, ob sie die Dame recht verstanden hatte. »Wie bitte?«
»Mein liebes Mädchen, ich habe zu lange und zu hart daran gearbeitet, euch beide zusammenzubringen, um jetzt zuzulassen, dass Ihr Jonathan einen Korb gebt.«
Alice starrte sie mit offenem Mund an. »Was sagt Ihr da?«
»Ihr habt mich sehr wohl verstanden. Setzt Euch.«
Verwirrt ließ sich Alice auf der nächstbesten Sitzgelegenheit, der Kante von Lady Fairleys Bett, nieder. Die Dame begann, im Zimmer auf und ab zu gehen.
»Zuallererst einmal«, stieß Jonathans Mutter hervor, »muss ich wissen, ob Ihr meinen Sohn liebt, beziehungsweise glaubt, dass Ihr ihn eines Tages lieben lernen könntet.«
»Ich … Ja«, stotterte sie, zu überwältigt, um lügen zu können. »Das tue ich.«
»Gut.« Lady Fairleys zufriedenes Lächeln wirkte nicht gerade beruhigend auf Alice. »Ich kann das alles erklären. Jonathan ist ein großartiger Junge: intelligent, charmant, gut aussehend, liebevoll … Einen besseren Sohn könnte sich eine Mutter nicht wünschen. Er hat jedoch einen Makel. Er ist genauso stur und widerspenstig, wie es sein Vater war.«
»Das wären dann aber zwei Makel, Mylady. Ich habe diese Eigenheiten übrigens auch bemerkt«, stimmte Alice ihr zu. Lady Fairley kniete sich neben sie.
»Natürlich habt Ihr das. Ihr seid ein gewitztes Mädchen!« Sie erfasste Alices Hände, erhob sich und setzte sich zu ihr aufs Bett. »Doch trotz dieser Makel könntet Ihr ihn lieben.«
»Niemand ist perfekt, Mylady. Sturheit und Widerspenstigkeit sind bei den Männern recht weit verbreitet.«
»Das ist wohl wahr«, stimmte Lady Fairley ihr seufzend zu. »Allerdings befürchte ich, dass Euch die Ausmaße seiner
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